Sozionik – die russische Wunderwissenschaft?

Gesichtserkennung, Mathematik als Beziehungsratgeber und das berechnete Unterbewusste – die osteuropäische Sozionik verspricht kuriose Dinge. Ein Blick hinter die Kulissen.

Glaubt man den Behauptungen der Sozionik (Socionics im englischen), so lassen sich damit wundersame Dinge anstellen: anhand eines Portraitbildes kann der Persönlichkeitstyp einer Person festgestellt werden, die Beziehungen zwischen zwei Menschen laufen stets nach einem vorhersagbaren Muster ab und es lässt sich bis ins Detail erklären, wie das bewusste und unterbewusste Verhalten einer jeden Person funktioniert.

Doch von Anfang an: was steckt hinter der Sozionik?

Erstaunliche Ähnlichkeit mit Joschka Fischer: Ausra Augustinavičiūtė

Socionics / die Sozionik ist eine Persönlichkeitstheorie mit vielen Anwendungsbereichen und wurde in der ehemaligen Sowjetunion der 70er Jahre von einer Litauerin mit dem für uns unaussprechlichen Namen Aušra Augustinavičiūtė entwickelt.

Die Persönlichkeitstheorie der Sozionik hat übrigens nichts mit dem gleichlautenden deutschen Begriff Sozionik (Mischung aus Soziologie und Informatik) zu tun.

Die Grundlagen der Sozionik sind die 1921 von Carl Gustav Jung beschriebenen Charaktereigenschaften, die auch bei den heute aktuellen, wissenschaftlichen Big Five Tests ähnlich definiert werden, und im Typentest ExtrovertiertIntrovertiert, Praktisch-Theoretisch, Hart-Kooperativ und Spontan-Geplant heißen.

Die Persönlichkeitstheorie der Sozionik basiert auf diesen psychologischen Typen Jungs und nutzt daher die gleichen 16 Typen wie der Typentest Persönlichkeitstest. Auf den ersten Blick ist die Sozionik daher scheinbar genau das gleiche wie die Typologie von MBTI(Myers Briggs), David Keirsey und Co., nur eben auf Ukrainisch und Russisch. Doch die Sozionik ist mehr als das. Im Detail offenbaren sich erhebliche Unterschiede zur westlichen Typologie, denn in der Sozionik gibt man sich nicht mit den 16 Typen zufrieden. Man versucht dort, noch viel mehr in die Theorie hinein zu interpretieren und die Persönlichkeit berechenbar zu machen.

Gesichtserkennung – zeig mir wer du bist!

Visual Identification Test auf socionics.com

Das wohl faszinierendste Element der Sozionik ist die Gesichtserkennung, die so genannte „Visual Identification“. Demnach soll anhand der Gesichtszüge eines Menschen dessen Typ bestimmt werden können. Und das angeblich sicherer und fehlerfreier als mit einem herkömmlichen Persönlichkeitstest. Die Theorie ist, dass bei einem Menschen die Charaktereigenschaften im Aussehen durchscheinen, so als wenn man verschiedene Bauklötze in einen losen Sack stecken würde.

Dieser Gedanke ähnelt der sehr umstrittenen Physiognomik. Wissenschaftlich gesehen ist beides Unsinn: in Studien* hat man festgestellt, dass wir Gesichter zwar mit bestimmten Klischees über die Persönlichkeit verbinden, dass diese Klischees aber unbegründet sind (ähnlich den Klischees über andere Länder). Wir interpretieren schnell etwas in ein Gesicht hinein und fühlen uns dann oft in unserem Urteil bestätigt, obwohl es nicht stimmt. Es tritt ein Placebo-Effekt ein: die vermeintliche korrekte Einschätzung ist reine Einbildung, denn in Wirklichkeit stimmen die von uns wahrgenommenen Klischees nicht. Eine ausführliche Erklärung dazu im Artikel von letzter Woche, „Wie wir uns täuschen lassen„.

Natürlich mag es sein, dass wir minimale, aber wirklich nur minimale Charaktereigenschaften aus einem Gesicht lesen können (ein interessanter englischer Artikel dazu findet sich beim New Scientist). Und natürlich lässt sich einiges über die Persönlichkeit anhand von Körpersprache und Mimik, also dem Verhalten eines Menschen, erkennen. Aber aus einem Bild des Gesichtes lässt sich definitiv nicht der Typ eines Menschen ablesen. Wenn es doch so wäre, könnten „Experten“ auf diesem Gebiet ganz einfach den Beweis dafür erbringen, indem sie Menschen unter kontrollierten Bedingungen korrekt einschätzen. Aber sie konnten und können es nicht. Weil es nicht geht.

Die Visual Identification wird von Sozionik-Begeisterten im Internet dennoch häufig praktiziert, besonders auch bei Promis (z.B. auf socionics.com). Allerdings gibt es keinerlei Richtlinien, Regeln oder Anleitungen dazu. Jeder beruft sich lediglich auf die eigene Intuition. Dementsprechend sind die Ergebnisse bei eingeschätzten Promis meist sehr unterschiedlich. Auch Tests von Forenusern, die ihren Typ bereits kennen und ein Bild von sich posten, um sich einschätzen zu lassen, verlaufen meist negativ. Damit ist die Gesichtserkennung nicht mehr als ein Spiel ohne Aussagekraft. Ähnlich ist es auch in anderen Bereichen der Sozionik.

Mathematik als Beziehungsratgeber

Erinnert an den Chemieunterricht – Sozionik Beziehungstabelle auf socionicsdemystified.com

Es gibt in der Sozionik exakte Tabellen dafür, welcher Typ mit wem welche Beziehung hat, z.B. Lehrer – Schüler Verhältnis, Spiegel oder Superego. Manche Beziehungen sind zum scheitern verurteilt, andere haben einen Nutznießer und einen Ausgenutzten.

Die Aussicht berechenbarer Beziehungen ist zugegebenermaßen verlockend. Dieser Theorie der „Intertype Relations“ nach könnte man zwei Menschen nehmen, ihre Typen bestimmen (allerdings lieber nicht mit Visual Identification), und wüsste dann genau wie sie sich untereinander verhalten. Ganz besondere Aufmerksamkeit kommt dem so genannten Dual zu, dem optimalen Partner, dessen Persönlichkeit sich perfekt mit der eigenen ergänzt und das für jeden ein bestimmter Typ ist.

Klingt super. Das Problem dabei ist nur: es funktioniert überhaupt nicht. Denn unsere Beziehungen sind derart individuell und von so vielen hunderten Faktoren abhängig, dass sie nicht vorhersagbar oder gar berechenbar sind. Die Aussagekraft dieses mathematischen Beziehungsmodelles ist gleich Null. Es stimmt nicht mit der Realität überein, erkennt noch nicht einmal Tendenzen. Es gibt keine Studien oder Forschungen dazu, und auch ein Laie merkt schnell, dass es sich hierbei um eine mathematische Utopie handelt, die nicht viel mit der realen Welt zu tun hat. Entstanden ist dieses Luftschloss durch die Theorie der Funktionen:

Das berechnete Unterbewusste – die Funktionen

Symbole der Funktionen

Durch die so genannten Funktionen, die sich an der ursprünglichen Arbeit Carl Gustav Jungs orientieren, lässt sich laut Sozionik herausfinden, wie ein Mensch psychologisch tickt. Sie stehen für fest verankerte Denk- und Verhaltens-Grundzüge, dargestellt durch geometrische Symbole. Ist die Angabe des Typs nur ein grobes Verhaltensmuster, so erklären die Funktionen ganz genau, wie wir Informationen aufnehmen, welche Verhaltensweisen dominant sind, welche sekundär, wie wir unterbewusste Entscheidungen treffen und so weiter…

Diese Funktionstheorie ist sehr komplex, abstrakt und voller Unklarheiten und Fallen. Selbst wenn man sich einmal hineingearbeitet hat, wirft sie mehr Fragen als Nutzen auf. Denn die Funktionstheorie ist reines Wunschdenken, die Persönlichkeit eines jeden Menschen exakt berechnen und mit Tabellen darstellen zu können. Dies wurde bereits in Studien* und Artikeln zum amerikanischen MBTI belegt, denn dort ist das Problem mit der Funktionstheorie genau das Gleiche (siehe dazu Jung & MBTI – der Irrtum von Funktionen und Typdynamik (1) sowie Die Funktionen nach Jung).

Beispiel der Funktionen für den Typ ITLG Wissenschaftler

Der Aufbau dieser psychologischen Grundfunktionen richtet sich nach einer festen Schablone, ist immer gleich für jeden Typen. Und genau da liegt das Problem: individuelle Unterschiede von Person zu Person werden überhaupt nicht berücksichtigt. Dabei macht gerade das Individuelle die Persönlichkeit aus. Die Funktionen aber sind eine starre mathematische Formel, die fest vorgibt, wie die Persönlichkeit zu funktionieren hat, ähnlich dem realitätsfernen Beziehungsmodell der Intertype Relations. Die Funktionstheorie spiegelt in keiner Weise das tatsächliche Verhalten einer Person wieder, sondern erzielt maximal einen Placebo-Effekt, wenn wir uns in Teilen davon wiedererkennen.

Die abstrakten Funktionen in der Sozionik und ihre Bedeutungen auf socionics.us. Ausführliche Beschreibungen unter socioniko.net.

Warum wird die Funktionstheorie dennoch verwendet? Weil sie eine vermeintliche Erklärung dafür liefert, wie unsere Persönlichkeit funktioniert. Denn wir können unsere Persönlichkeit zwar mit verschiedenen Tests erfassen und beschreiben, aber erklären warum und wie dies alles funktioniert, das können wir bis heute nicht. Deswegen übt diese vermeintliche Erklärung eine so große Faszination aus, obwohl sie komplett an der Realität vorbeigeht.

„Socionics – The new Psychology?“

Ist die Sozionik also das nächste große Ding, als das sie von ihren Anhängern oft präsentiert wird? Nein. Erstaunlich ist der Unterschied in der Selbstwahrnehmung der Sozionik im Vergleich zur Realität: Sozioniker selbst sehen die Sozionik als echte Wissenschaft und Psychologie. Socionics.com titelt beispielsweise „Socionics – The new Psychology“. Allerdings gibt es keine einzige(!) wissenschaftliche Studie im Bereich der Sozionik, es wird an keiner Uni gelehrt, professionelle Psychologen haben noch nie davon gehört und in der wissenschaftlichen Persönlichkeitsforschung ist die Sozionik gänzlich unbekannt bzw. wird ignoriert.

Zwar gibt es in Russland und der Ukraine mehrere private Sozionik-Schulen und Institute, jedoch betreibt auch von diesen niemand ernsthafte Forschung. Es werden lediglich Theorien und Ideen ausgetauscht. Denn was in der Sozionik als Fakten präsentiert wird, sind in Wirklichkeit leider nur persönliche Anekdoten, Erlebnisse, Meinungen und Theorien.

Im russischsprachigen Raum, insbesondere in der Ukraine, genießt die Sozionik eine gewisse Beliebtheit, ähnlich wie der MBTI und Keirsey in den USA. Im englischsprachigen Internet gibt es jede Menge Seiten und Diskussionen zu Socionics (mehr dazu unten).  Von den zahlreichen russischsprachigen Büchern hat es bisher nur ein einziges zu einer (etwas holprigen) englischen Übersetzung geschafft: An Introduction to Socionics von Ekaterina Filatova. In Deutschland ist die Sozionik als Persönlichkeitstheorie nahezu völlig unbekannt.

Die berechnete Persönlichkeit, der ideale Mensch

Der ideale, berechnete Mensch?

Die Sozionik versucht, die menschliche Persönlichkeit und zwischenmenschliche Beziehungen mathematisch zu erfassen. Sie versucht, unser Verhalten und unsere Beziehungen bis ins kleinste Detail berechnen und vorhersagen zu können. Und scheitert.
Das Problem der Sozionik ist ihre Endgültigkeit, ihr starres festhalten an Formeln und Tabellen: die individuelle Persönlichkeit eines Menschen spielt keine Rolle, sondern in der Sozionik MUSS jeder in ein bestimmtes Muster passen, welches genau festlegt, mit wem er welche Art von Beziehung führt, was seine herausragenden Charaktereigenschaften sind und was seine unterentwickelten. Für individuelle Unterschiede, die von den starren Formeln der Sozionik abweichen, ist kein Platz. Es ist die mathematische Fantasie eines Idealzustandes, der weder in der Realität, noch im Ideal funktioniert.

Wissenschaft und Psychologie haben schon Mühe damit, überhaupt unsere grundlegenden, sichtbaren Persönlichkeitseigenschaften klar zu definieren, siehe die wissenschaftlichen Big Five, dass Hexaco-Modell oder Reiss Profile. Auch die 16 Typen vom Typentest sind nur eine Generalisierung, die nicht auf jeden exakt passt, siehe Gibt es Typen?. Da brauchen wir mit einem System zur exakten Berechnung unserer unterbewussten Vorgänge erst gar nicht anfangen. Denn das geht nicht.

Hätte die Sozionik Recht mit ihrer starren Formel zur Berechnung unseres Verhaltens, wäre die Welt ein langweiliger Ort und alle Menschen sehr berechenbar. In Wirklichkeit sind wir alle jedoch sehr individuell und teilen uns nur generelle Charaktereigenschaften, die im Typentest z.B. in den 16 Typen zusammengefasst werden, in denen man auch schwanken oder sich mehreren zuordnen kann. Lieber Individualität als Berechnung!

Fazit: Sozionik ist ein Placebo

Die Sozionik ist sehr ambitioniert, schießt aber leider mit ihren gut gemeinten, teils unhaltbaren und kuriosen Theorien weit übers Ziel hinaus. Was bleibt, ist das bekannte System der 16 Typen und jede Menge Diskussionsstoff, was an der Sozionik ernst zu nehmen ist und was nicht. Das Meiste davon funktioniert jedenfalls nur in unserem Kopf, nicht in der Realität.

„What if Socionics“ Meme Bild von troll.me

Quellen:
* Facing faces: studies on the cognitive aspects of physiognomy, Hassin R; Trope Y, 2002
* New Scientist: How looks betray your personality
* Reynierse, James H, The case against type dynamics, Journal of Psychological Type, 2009
* Reinterpreting the Myers-Briggs Type Indicator From the Perspective of the Five-Factor Model of Personality, Robert R. McCrae, Paul T. Costa Jr., 1989
* sowie die Blogartikel mit weiteren Quellen: Gibt es Typen?, Jung & MBTI – der Irrtum von Funktionen und Typdynamik (1)Die Funktionen nach C.G. Jung – Fakt oder Interpretation?, Die Funktionen nach Jung und Wie wir uns täuschen lassen.

Ähnliche Artikel: Disg, Berufstest, Charakterstärken-Test VIA-IS

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9 Responses to Sozionik – die russische Wunderwissenschaft?

  1. Da ich mich bereits längere Zeit mit der Sozionik beschäftigt habe und auf einigen sozionischen Seiten sogar zum Kreis der „Sozioniker“ gezählt werde, möchte ich zu dem Text einige Anmerkungen machen. Dabei geht es mir nicht um eine Kritik der sicherlich immer notwendigen Kritik, sondern um einen Beitrag zur Diskussion von Persönlichkeitstypologien ganz generell.

    Wissenschaftlichkeit und praktische Bedeutung der Sozionik

    Menschen sehen und beurteilen ihre Umwelt entsprechend ihren jeweiligen Persönlichkeitseigenschaften unterschiedlich. Dieses Credo dürften allen Persönlichkeitstypisierungen teilen und sie damit von einer einheitlichen Sicht des Menschen als Gattungswesen abheben. Daher kann man auch die Sozionik durchaus verschieden wahrnehmen und bewerten.

    Wichtig dürften vor allem zwei Aspekte sein, die hier speziell angesprochen sind, und zwar die Wissenschaftlichkeit und die praktische Bedeutung für das ganz alltägliche Leben.

    Sozionische Werbebotschaften

    Sieht man auf den Kontext, in dem die kurios genannten Selbstaussagen der Sozionik erfolgten, muss man sie als Werbebotschaften auf einem hart umkämpften Psychomarkt einordnen.

    Die Betreiber von ausgefeilten Webseiten und die Schulen, die Beratungen und Kurse in Sozionik anbieten, betreiben Sozionik als Beruf und sind nicht durch akademische Positionen an Hochschulen für selbstgewählte Forschungen freigestellt. Ihre Werbung soll daher Aufmerksamkeit auf ihr Produkt „Sozionik“ lenken, ganz wie bei einem Deo oder Rasierwasser, von dem in Werbespots eine problemlose Verführung von Wunschpartnerinnen versprochen wird. Dazu mögen zwar Duftstoffe wie Pheromone ihren Beitrag leisten, aber niemand wird deswegen die Werbebotschaften für bare Münze nehmen und deswegen schon im Voraus eine gemeinsame Wohnung mieten oder gar eine Hochzeit planen.

    Eine ähnliche Freiheit sollte man daher den erwähnten Aussagen einiger Sozioniker zubilligen, die bestenfalls etwas über die Thematik der Sozionik aussagen, aber nichts über ihre praktische Leistungsfähigkeit.

    Die Unwissenschaftlichkeit von Persönlichkeitstypologien

    Ist nun die Sozionik eine Wissenschaft, wenn man ihren Kern hinter dieser Marketingfassade betrachtet?

    Für mich ist sie genauso wenig oder viel eine Wissenschaft wie die anderen Persönlichkeitstypologien, denn die Typen werden nicht mit wissenschaftlichen Methoden aus einer diffusen Wirklichkeit herausdestilliert, sondern vom Typologen nach Kriterien, die er festlegt, bestimmt. Er ist es, der die Auswahl der Merkmale trifft und die Schwellenwerte bestimmt, an denen jemand beispielsweise als „extravertiert“ oder „introvertiert“ gilt. Dieses Schicksal teilen die Sozioniker mit den Anhängern des Enneagramms, verschiedener physiognomischer Richtungen und auch des MBTI. Man mag zwar die Menschen nach dem Geschlecht eindeutig zwei Klassen zuordnen können. Beim Alter und Einkommen müssen hingegen bereits diskussionsbedürftige Annahmen darüber gemacht werden, wer nun als „jung“, „arm“ u.s.w. zu gelten hat. Das trifft in weitaus stärkerem Maß für komplexe psychische Merkmale wie „rational/ planend“ oder „irrational/ spontan“ zu.

    Der wissenschaftliche Hintergrund der Sozionik

    Trotz dieser Einschränkung hat die Sozionik durchaus eine wissenschaftliche Basis, die sich allerdings nicht einer einzelnen universitären Disziplin zuordnen lässt. So hat sich die litauische Begründerin Ausra Augustinavichiute oder kurz Augusta selbst als Soziologin gesehen, die in ihrem Modell vor allem auf Psychologen wie C. G. Jung und Antoni Kępiński sowie den Mediziner Ernst Kretschmer zurückgegriffen hat. Alle diese Einflüsse lassen sich sehr leicht in ihren Annahmen nachweisen.

    Die „visuelle Typidentifikation“, die aus menschlichen Gesichtszügen auf einen der 16 Typen schließen will, lässt sich auf dieses Erbe eines von Kretschmer unterstellten Zusammenhangs von Körperbau und Charakter zurückführen. Sie ist jedoch nur die Position der „Schule der physiognomischen Sozionik“, die nicht zur klassischen Tradition der Sozionik gerechnet wird. Im Kern sozionisch ist hingegen die Beobachtung äußerlicher Merkmale wie die Auswahl der Kleidung, die Körperhaltung und die Gestik, die man für verlässlicher hält als beispielsweise kurze Internetfragebögen.

    Die Empirie in der Sozionik

    Schon sehr früh hat der Kreis um Augusta, der in Vilnius das sozionische Grundkonzept entwickelt hat, eigene Primärbeobachtungen durch kleine systematisierte Untersuchungen ergänzt. So versucht man auch weiterhin sozionische Teilfragen empirische anzugehen. (vgl. z.B. die Rubrik „Experimente“ auf der Übersichtsseite http://www.socionic.ru ) Dazu zählen nicht zuletzt selbstkritische Analysen der Typisierungsergebnisse. Auch sehen die Soziniker selbst die Sozionik als ein Randgebiet der Psychologie, das sich erst noch einen Rang als Wissenschaft erarbeiten muss. (vgl. http://www.typen-und-mehr.com/sozionischeralltag.htm)

    Der Realitätsgehalt sozionischer Aussagen

    Mangelhaft bleibt trotz dieser Hinweise die Beantwortung der Frage, ob sozionische Annahmen die Realität korrekt abbilden.

    Die „Theorie der Funktionen“ ist dabei als ein Modell zu sehen, das die Differenzierung in die 16 Typen und keine individuellen Unterschiede erklären soll. Es ist daher von seiner Aufgabe her etwa mit dem bekannten Bohrschen Atommodell zu vergleichen. Man kann folglich nicht erwarten, dass in dieser vereinfachten Darstellung der Realität das Untypische eines Menschen erfasst wird. Aber das ist generell das Manko aller Typologien, die gerade dank ihrer Vereinfachung komplexe Fragen überschaubarer machen sollen.

    Im Hinblick auf die empirische Qualität wichtiger sind die Aussagen über die Relationen zwischen den einzelnen Typen. Als Beispiel kann die Hypothese zur Dualität gelten, die nach dem Modell die bestmögliche Grundlage für eine dauerhaft intakte Partnerbeziehung bilden soll, wenn man sich dabei auf Persönlichkeitsmerkmale beschränkt. Ein abgesicherter empirischer Beweis dafür liegt bisher nicht vor. Das ist zweifellos ein Manko, aber es ist ein Defizit, das die Sozionik mit der universitären Psychologie weitestgehend teilt.

    Wie gerade die aktuelle Diskussion der Matching-Algorithmen, die die großen Online-dating-Anbieter verwenden, belegt, können auch die bisherigen Ergebnissen der psychologischen Persönlichkeitsforschung nicht überzeugen. Das Matching, das angeblich auf wissenschaftlicher Grundlage erfolgen soll, genügt den üblichen Standards einer empirischen Wissenschaft ebenfalls in keiner Weise. Die Zuordnung ist nicht transparent, die Ergebnisse werden nicht überprüft und die Zuordnungskriterien, die sich verwenden lassen, können bestenfalls einen verschwindend geringen Anteil eines Partnerglücks erklären. Das sind jedenfalls die Urteile, die der amerikanische Psychologe Eli J. Finkel aufgrund einer Metaanalyse vorliegender empirischer Studien im Hinblick auf die Beratungsleistungen seiner geschäftstüchtigen Berufskollegen fällt.

    Die praktische Bedeutung der Sozionik

    Ist damit weder die Sozionik noch die universitäre Psychologie für das praktische Leben hilfreich?

    Man muss hier das „unwissenschaftliche“ Kind nicht zwangsläufig mit dem Bad ausschütten. Die Sozionik kann wie auch der MBTI oder die Big Five ein Wegweise oder eine Methode zum besseren Verständnis von uns selbst und von unseren Mitmenschen sein. Dabei dürfte die sozionische Kernmaxime, nach der alle Typen unterschiedliche Stärken und Schwächen besitzen, die alle einer Ergänzung bedürfen, sozialen Diskriminierungen entgegenwirken und jedem dabei helfen, das Beste aus seinen persönlichen Voraussetzungen zu machen.

    Diesen Weg der Selbstentwicklung unterstützen vor allem in Russland, der Ukraine und teilweise auch in den englischsprachigen Ländern die zahlreichen kostenfrei zugänglichen Texte sowie die breiten Diskussionsforen, in denen auch unterschiedliche sozionische Interpretationen erörtert werden.

    Die Sozionik als eine laienpsychologische Bewegung ist daher mit ihrem Modell deutlich transparenter als etwa das MBTI mit seinem kommerzialisierten Lizenzsystem oder das mit einem mystischen Schleier umgebene Enneagramm. Allein wegen ihrer zahlreichen Strömungen zählt sie auch nicht zu den dogmatischen psychologischen Heilslehren, die von Gurus und deren rechtgläubigen Anhängern geprägt sind.

    Die Sozionik verlangt also durchaus Kritik und wissenschaftliche Impulse, aber alles mit Augenmaß und fairen Maßstäben im Vergleich mit anderen Persönlichkeitstypologien, die ebenfalls am besten in „unserem Kopf“ funktionieren.

  2. Lars Lars sagt:

    Hallo Herr Landwehr,

    Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar von einem Experten!

    Natürlich sind alle anderen Persönlichkeitssysteme auch kritisch zu sehen. Die Lücke aus Versprechungen und der Realität klafft bei vielen kommerziellen Tests genauso groß wie bei der Sozionik.

    wissenschaftliche Grundlagen?
    Jung und Kepinski sind keine wissenschaftlichen Grundlagen, denn ihre Modelle wurden nicht nachgewiesen und damit auch nicht von der Wissenschaft akzeptiert. Jung und seine Theorien sind und wurden nie von der Wissenschaft ernst genommen. Können sie auch gar nicht, denn er selbst stellte sich gegen die wissenschaftliche Methodik des prüfen und nachweisens und vertraute stattdessen lieber seinen Eingebungen. Das ist auch das größte Problem von Sozionik und MBTI: man folgt lieber den 100 Jahre alten Eingebungen von Jung, anstatt sich an rigoroser Forschung zu orientieren. Dazu gehört, überholtes und als falsch erwiesenenes Wissen fallen zu lassen. Leider macht man das bei beiden Modellen nicht und zitiert stattdessen lieber Jung als prophetische, absolute Wahrheit.

    zur visuellen Identifikation:
    Klar, Körpersprache sagt einiges aus. Ob über den Typ, oder einfach nur das aktuelle Verhalten, das ist dann wieder strittig. Socionics.com und einige andere Sozionik Webseiten betreiben allerdings explizit das „Typen-deuten“ anhand des Gesichts – und das hat einfach keine Grundlage.

    Die Metanalyse zum Matching von Finkel kenne ich auch.
    Sehr interessante Sache, die mal wieder zeigt, wie uns die Werbung an der Nase herumführt. Ich denke, dass hier weder Sozionik noch wissenschaftliche Psychologie zu Ergebnissen kommen, liegt daran, dass es in dem Bereich einfach keine klaren Ergebnisse gibt. Ob eine Beziehung funktioniert, hängt von ganz vielen Dingen ab. Auch wenn der Persönlichkeitstyp da eine Rolle spielt, dann ist er nur ein Faktor unter Dutzenden. Und die perfekte Beziehung = Typ X & Typ Y, die Schablonenhaft für alle Menschen gilt, gibt es sicher nicht.

    Erwartungen an die Sozionik
    Die Sozionik ist sehr transparent und nahezu alle Inhalte kostenfrei zugänglich, das ist definitiv ein ganz großes Plus. Sicher hilft sie auch vielen Menschen, sich selbst und andere besser zu erkennen – das wollte ich im Artikel auch gar nicht anzweifeln.

    Allerdings schürt die Sozionik durchaus hohe Erwartungen, alle Beziehungen zwischen Menschen berechnen und auch das Verhalten komplett analysieren zu können. Aber die kann sie in keiner Weise erfüllen. Die Sozionik will – wie im Artikel beschrieben – einfach zu viel sein. Das System der 16 Typen mit Stärken Schwächen usw. bietet doch eigentlich schon genug Stoff für Erklärungen, Analysen, Konflikte und Vorhersagen.
    Ich finde es Schade, dass man bei der Sozionik – was bei MBTI und Keirsey natürlich fast das Gleiche ist – nicht erkennt, das gewisse Sachen (VI, Intertype, Funktionen) teilweise oder komplett an der Realität vorbeigehen und sie entweder überarbeitet, neu aufgebaut oder komplett abgelegt gehören. Das ist auch der Unterschied zur echten Wissenschaft, wo genau das gemacht wird. Stattdessen macht man bei der Sozionik (und MBTI) einfach mit einem fehlerhaften System weiter. Dabei wäre aufgrund des freien Aufbaus und der nicht-kommerziellen Ausrichtung eine Überarbeitung des Systems in der Sozionik problemlos möglich.
    Natürlich kann man sagen vieles daran sind Theorien, die nicht den Anspruch auf komplette Realitätsnähe haben. Aber mal ehrlich: wenn diese Theorien keine Relevanz in der Realität haben, was wollen wir dann damit? Da kann ich – überspitzt ausgedrückt – auch Pokemon-Karten oder Sternzeichen analysieren und über deren Beziehungen untereinander philosophieren.

    Daher wäre es für die Sozionik besser, die sprichwörtliche Kirche im Dorf zu lassen, sprich bei den 16 Typen zu bleiben, deren konkrete Existenz ja durchaus auch umstritten ist.

  3. Shiqeri sagt:

    Die im Westen verbreiten Typen sind vermutlich zuverlässiger wie zb der erwähnte Keirsey Test. Immerhin müssen die Parameter ständig erweitert und an die Zeit angepasst werden – ganz ähnlich wie IQ Tests schnell obsolet werden und dann falsche Ergebnisse liefern.

  4. As sagt:

    Sozionik ist sehr gut für die Praxis geeignet wenn man sich den gut mit ihr auskennt und eine gewisse Beobachtungsgabe besitzt.

  5. As sagt:

    Außerdem ist es nicht besonders nett Soionik schlecht zu machen um das eigene Buch besser zu vermarkten, durch die Sozionik kommt man an die Informationen über die Typen kostenlos

  6. Lars Lars sagt:

    Sorry „As“, aber dein Kommentar ist schlicht falsch. Auf typentest.de ist seit mehr als 10 Jahren alles kostenlos und es wird auch in Zukunft alles kostenlos bleiben. Das ist von Anfang an einer der Grundgedanken hinter typentest.de gewesen: kostenlos Informationen bereit stellen. Der Artikel zur Sozionik ist ein Jahr alt(!) und das Buch erscheint erst in drei Monaten – beides hat überhaupt nichts miteinander zu tun und im Buch geht es in keiner Weise um die Sozionik, ja nicht einmal um die 16 Typen, sondern um wissenschaftliche Erklärungen zur Persönlichkeit anhand der Big Five.

    Auch mache ich hier die Sozionik nicht „schlecht“, sondern präsentiere eine kritische Sichtweise, die man anderswo schmerzlich vermisst. Das mache ich nicht nur mit der Sozionik, sondern auch mit anderen Themen, wie MBTI und Co. Denn ich finde es einfach falsch, ein dogmatisches Modell unserer Persönlichkeit zu propagieren, dass allen vorschreibt, wie sie sein müssen und angeblich alles erklären kann. Andererseits selbst aber Nachweise für seine Wirksamkeit schuldig bleibt. „Bei mir funktioniert es“ oder „Wenn man sich gut genug damit auskennt, kann men sehen, wie es funktioniert“, sind dabei keine gültigen Argumente. Denn dann müssten Systeme wie Sternzeichendeutung, das Ennneagramm, Disg und Co. ebenfalls universal gültig sein, denn auch die haben jede Menge überzeugte Anhänger, die sich sicher sind, das es funktioniert. Wenig überraschend sind diese Systeme aber nicht untereinander kompatibel und auch nicht mit der Sozionik. Sie mögen zur Selbsterkenntnis nützlich sein, aber sie sind nicht die absolute Wahrheit.
    Daher bin ich kritisch diesen Dingen gegenüber und sehe die Persönlichkeit als offenes System, in dem jeder seinen individuellen, nicht exakt berechenbaren Platz hat. Dieser lässt sich durchaus mit Typen beschreiben, aber diese Typen sind im Endeffekt nur künstliche Konstruktionen von uns, um die Persönlichkeit besser zu verstehen, und nicht real existent. Genau das ist übrigens auch die Lehrmeinung, wenn du z.B. Psychologie studierst oder ein akademisches Lehrbuch zur Persönlichkeit liest.

  7. a. robben sagt:

    Wer kein Trottel ist, d.i. ein wirrkopf, durch Gedanken und Modelle tappend nach Art der großen Affen, der kann durchaus der Sozionik etwas abgewinnen. 1 Sie gibt der Intuition, d.i. nicht gleich Faßbares, Formulierbares fassen, eben intuitiv 2 übrigens ein „Anspruch“ der Sozioniker: Sie erlaubt jemandes Eigenschaften anzunehmen, nicht blind abzulehnen, sich, wenn man so will, in seine Lage zu versetzen, und somit ist sie erdacht als Mittel, U n v o r e i n g e n o m m e n h e i t zu erlernen. Typologie ist mehrdeutig. Nicht nur Dingfestmachung. Die Sozioik ist keine Astrologie ohne Sterne. Astrologie foppt. Und schließt unentwegt den Kreis der Voreingenommenheit. Die Sozionik nicht. Sie ist dynamisch. Bevor man sich auf Eigenschaften, Merkmale, feste Vorstellungen versteift, hat sie sich schon fortbewegt. Ich vermute die Aufnahme dieses Modells. Sie ist ebenso ein Modell, wie meinetwegen die Allgemeine Relativitätstheorie, ist das Produkt eines gewissen Trainings, daß wie folg abläuft: Zeitungen, Fernseher, Anstalten, Schulen, Universitäten, Bankfilialen p.p., allüberall ist es nicht erwünscht, einen Gedanken zu formulieren, weil man ist gegen Gedanken voreingenommen, dergestalt, daß wenn einer formuliert wird, man ihn nicht etwa auffasst, sondern verwirft, mit dem plumpen Vorwurf, er sein voreingenommen. Der Artikel argumentiert nicht, ist unprofund, vöölig unpsychologisch (stellt sich selber keine Fragen) p.p., ein typisches Werk deutscher Provinienz, von der F. Nietzsche sagte: „ohne psychologische Neugierde“. Sozionik nützt, weil Sie in der Tat, ein Modell abgibt, an dem man ein bisschen üben kann, n i c h t voreingenommen zu sein. Man projiziert wohl gern auf solche Dinge eigene Voreinegnommenheit. Das Problem spiegelt sich in seinem Lösungsversuch, was heftige Reaktionen bewirkt. Mcht der Gewohnheit.

  8. Sam sagt:

    @Kommentar von a. robben:
    ich verstehe nichts von diesem Wirrwarr den du da schreibst.

  9. Maik D sagt:

    Die intertypische Beziehungen inklusive der Dualität sind alle wahr(!). Problem sind die zahlreichen Esoteriker die traditionell auf diesem Gebiet stark präsent sind und durch ihre Phantastereien alles ins absurde ziehen.

    Ein weiteres Problem sind die Psychologen selbt. Da die überwiegende mehrheit so ähnlich wie bei Juristen sich für diesen Beruf entscheidet, nicht etwa weil sie dazu geeignet sind, sondern weil sie es im warmen haben und nichts schweres schleppen müssen. Weshalb sie durch ihre Inkompetenz und Untauglichkeit vieles fehldeuten und in vielem falsch liegen.
    Ich habe einmal eine sehr interessante Doku auf BBC oder so gesehen, da wurde eine Gruppe von Psychiatren gebeten Probandenmit psychologischischen Erkrankungen zu analysieren. Mit einem ernüchternden Ergebniss. Gerade mal zwei von zehn Prognosen lagen richtig. Der rest komplett ins leere.

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