Die Macht der Intuition – von Erfahrungswerten und mystischer Einsicht

„Die Macht ist mit dir, Luke!“ Oder etwa doch nicht?

Ich fahre mit 100 km/h auf der Landstraße, weiter vor mir eine scharfe Rechtskurve. Intuitiv gehe ich bereits mehrere hundert Meter vorher vom Gas, lasse das Auto rollen und kann mit perfekter Geschwindigkeit um die Kurve gleiten, ohne bremsen zu müssen. Meine Intuition hat mich automatisch richtig geleitet.

Ich spiele Poker. Auf meiner Hand zwar nur niedrige Karten und keine wertvolle Kombination, aber auch ein Pik-Ass. „Eine gute Hand!“ sagt meine Intuition. Intuitiv setze ich mehr Geld, spiele weiter. Und verliere. Die Intuition hat mich schlecht beraten.

Wie kommt das? Im ersten Fall fahre ich Auto, eine Tätigkeit die ich schon seit vielen Jahren ausübe und gut beherrsche. Ich weiß, wie das Auto reagiert und kenne die Strecke von hunderten Fahrten in- und auswendig. Intuitiv schalte und bremse ich, ohne aktiv darüber nachzudenken, was ich da eigentlich tue. Ähnlich wie beim Schuhe binden oder Zähne putzen. Poker gespielt habe ich dagegen erst einige wenige Male in meinem Leben. Zwar kenne ich die Grundregeln, allerdings habe ich kaum Erfahrungswerte, was eine gute und was eine schlechte Kartenhand ist, wie ich mich in einer unklaren Spielsituation verhalte, ob ich lieber bremse oder Gas gebe. Daher ist meine Intuition hier ein schlechter Ratgeber.

Was ist dieses seltsame Bauchgefühl, diese Intuition, die uns ohne nachzudenken Entscheidungen fällen lässt, Ratschläge gibt und auf dieses oder jenes hinweist? Die uns instinktiv sagt, wem wir vertrauen können und wem nicht. Können wir diesem Gefühl vertrauen?

Intuition = Intuischmarrn?

Wenn wir etwas gut kennen – wie Autofahren, kochen oder vielleicht auch etwas ungewöhnliches wie Schwertkampf – können wir unserer Intuition meist vertrauen. Sie stützt sich auf solide Erfahrungswerte, darauf wie wir bisher mit diesen Ereignissen umgegangen sind. Da brauchen wir dann keinen Fahrlehrer und kein Rezept,  sondern wissen intuitiv, wie viel Mehl in den Pfannkuchenteig kommt, damit er schön locker und goldbraun wird. Jemandem, der zum ersten Mal Pfannkuchen bäckt, hilft seine Intuition allerdings kaum weiter: sie rät ihm dazu, noch fünf weitere Löffel Mehl zu nehmen, bis der Teig so fest wie Knete ist, oder beim Pokern alles auf eine eher schlechte Kartenhand zu setzen. In solchen Fällen sind statt Intuition der wache Verstand und Kombinationsgabe gefordert – oder eine gute Erklärung bzw. ein Kochrezept.

Bei gefühlsmäßigen Entscheidungen, z.B. beim Kauf von Einrichtungsgegenständen, der Filmwahl für den DVD-Abend oder der Farbwahl eines Kleidungsstückes, ist unser Bauchgefühl dagegen der bessere Berater als der Verstand. Denn damit, was wir aus einem guten Gefühl heraus auswählen, fühlen wir uns meist auch später noch wohl.
Auch Experten und Profis in ihrem Fach sind mit ihrer Intuition gut beraten: ein Fußballer hat keine Zeit abzuwägen, ob ein Torschuss oder ein Pass zu einem Mitspieler die bessere Option ist, er muss schnell und intuitiv entscheiden, sonst ist die Gelegenheit vorbei. Für ausführliche Überlegungen ist erst in der Analyse nach dem Spiel Zeit. Auch ein Personalchef nimmt nicht immer den objektiv passendsten Bewerber, sondern entscheidet oft danach, was ihm seine bisherigen Erfahrungen mit Bewerbern = seine Intuition, vorgeben. Ausschließlich intuitiv aus dem Bauch heraus kann er trotzdem nicht entscheiden, denn dann würde er die rationale Qualifikation der Bewerber außer acht lassen.

Die Intuition ist also eine Hilfe, eine große Menge Daten zu beurteilen, ohne alle einzeln abwägen zu müssen, z.B. die zig möglichen Kartenkombinationen beim Poker oder die unterschiedlichen Spielsituationen beim Fußball. Auch Musiker spielen oder schreiben meist intuitiv das, was ihnen ihr Gefühl vorgibt. Das geht aber nur, weil sie bereits Erfahrungen mit Musik und Instrumenten haben. Jemand, der noch nie im Leben eine Gitarre in der Hand gehalten hat, wird beim intuitiven an den Saiten zupfen nicht mehr als ein paar klägliche Töne herausbringen. Er muss sich stattdessen bewusst damit befassen, wie das spielen funktioniert, um es zu lernen. Der erfahrene Musiker kann dagegen – genauso wie der geübte Pokerspieler – intuitiv vorgehen: sein Unterbewusstsein hilft ihm bei den Entscheidungen und leitet ihn. Sein Verstand arbeitet im Unbewussten für ihn, ohne dass er es merkt. Er braucht nur einen bewussten Gedanken: was er machen will. In diesem Fall Musik spielen oder beim Poker gewinnen.

Wir können daher Intuition definieren als:
Eine Entscheidung oder Aktion ohne direkten Einsatz bewusster Gedanken, die vom Unterbewusstsein aufgrund bisheriger Erfahrungen ausgeführt wird
.
(ausführlichere Definition inkl. verschiedener Arten von Intuition in der Wikipedia)
.
Intuition funktioniert nur, wenn wir bereits Erfahrung mit etwas haben. Wenn wir etwas tun möchten, dass wir bisher nicht kennen, wird es nicht funktionieren, wenn wir uns nicht bewusst damit beschäftigen, denn die Intuition kann hier (noch) nicht greifen.
Doch es gibt noch zwei weitere Formen der Intuition: die mystische Intuition von C.G. Jung, und die (nicht weniger mystische) weibliche Intuition.

C.G. Jungs mystische Intuition

Für den Schweizer Psychologen C.G. Jung (siehe auch Geschichte der Persönlichkeitstests) war 1921 in seiner Typologie die Intuition nicht so sehr von Erfahrungen abhängig, sondern etwas Mystisches: sie hätte demnach Zugriff auf ein kollektives Unterbewusstsein und kann Dinge und Möglichkeiten vorhersehen, die nicht-intuitiven Menschen verborgen bleiben. Denn ein intuitiver Typ nimmt Jungs Ansicht nach Dinge und Zusammenhänge wahr, die andere nicht bemerken. Ein bisschen wie die Macht in Star Wars: eine Eingebung oder Wahrnehmung, die aus dem Nichts zu kommen scheint und einen auch mit verbundenen Augen die Umgebung spüren lässt.

Nimmt man das Mystische und Übersinnliche aus dieser Beschreibung, lag Jung aber gar nicht so falsch: in der aktuellen wissenschaftlichen Persönlichkeitsforschung der Big Five finden wir den Faktor Offenheit für neue Erfahrungen. Menschen mit einer hohen Offenheit sind empfänglicher für neue, ungewöhnliche Ideen, Eindrücke und Gefühle. Sie machen sich mehr als andere Gedanken darüber, was hinter den Dingen steckt, sind kreativ und introspektiv. Im Typentest Persönlichkeitstest entspricht eine hohe Offenheit für neue Erfahrungen der Persönlichkeitseigenschaft Theoretisches denken, eine niedrige Ausprägung der Eigenschaft Praktisches denken. Menschen mit niedriger Offenheit bleiben lieber bei den Dingen, die sie kennen, sind bodenständig und traditionell. Sie sehen nicht so viele Möglichkeiten, bzw. sind nicht so offen dafür. Diese wissenschaftliche Definition ist der Auffassung von Jung erstaunlicherweise gar nicht so unähnlich, nur ohne Hokus Pokus.

Jung sah mehr das Mystische, Unbegreifliche, Neue in der Intuition, als das bauen auf bisherige Erfahrungen und traditionelle, gelernte Vorgehensweisen. Im amerikanischen MBTI (Myers Briggs Typindikator) wurde daher eine Persönlichkeitsdimension Intuition genannt (was im Typentest der Eigenschaft Theoretisch entspricht, also hoher Offenheit für Neues). Diese Definition der Intuition sorgt für Verwirrung, denn die eigentliche, erfahrungsorientierte Intuition, wie wir sie weiter oben kennegelernt haben, ist damit nicht gemeint. Sondern stattdessen Vorstellungskraft, zukünftige Möglichkeiten und Eingebungen, also das konstruieren neuer Zusammenhänge aus den bisherigen Erfahrungen. Es ist eine andere Art von Intuition, wie das, was wir normal unter diesem Wort verstehen. Denn die klassische, unterbewusste Intuition nutzt jeder. Sonst könnten wir ohne bewusste Anstrengungen des Verstandes weder Autofahren, kochen, tanzen, noch uns die Schuhe binden. Alltägliche Tätigkeiten wären mit einem enormen Denkaufwand verbunden, um sie ausführen zu können. Die Intuition im Sinne der Offenheit für Neues und Ungewöhnliches hat dagegen nicht jeder. Viele richten sich lieber bodenständig nach den Dingen, die sie bereits kennen.
Intuition ist also ein Wort, das in diesem Zusammenhang unterschiedliche Bedeutungen hat. Ähnlich verwirrend (zumindest für Männer) ist es beim folgenden Thema.

Die weibliche Intuition

Die vielzitierte weibliche Intuition bezeichnet eine (angebliche) weibliche Begabung, etwas anhand des Bauchgefühls besonders gut einschätzen zu können. Sozusagen die Macht nur für Frauen. Doch gibt es sie wirklich, oder ist sie nur ein Klischee, ein Vorurteil, so wie jenes von den schlecht einparkenden Frauen oder die Klischees über andere Länder?

Die Wissenschaft sagt: Ja, es ist ein Klischee. Der Psychologieprofessor und Autor Richard Wiseman hat  in seinen zahlreichen Büchern verschiedenste psychologische Phänomene untersucht. In einer Studie bat er 15.000 Teilnehmer, ein falsches von einem echten Lächeln zu unterscheiden. Zwar schätzten sich Frauen durchgehend intuitiver ein, als die Männer das taten, aber das echte vom falschen Lächeln unterscheiden konnten sie trotzdem nicht besser. Hier lagen die Männer mit 72% sogar leicht vor den Frauen mit 71%. Diese Studie kann man auf der BBC-Webseite Spot the Fake Smile selbst durchführen – mit überraschenden Ergebnissen. Tipp: die Lachfalten an den Augen sagen einiges über die Echtheit eines Lächelns aus.

Kein Klischee ist allerdings, dass Frauen mehr ihrem Gefühl vertrauen und kooperativer sind als Männer. In der Persönlichkeitsforschung der Big Five und auch beim MBTI hat sich gezeigt, dass Frauen einen weitaus höheren Wert bei Verträglichkeit haben als Männer, also nach den Typentest-Begriffen häufiger kooperativ interagieren als hart. Man kann also durchaus sagen, dass Frauen sich im Schnitt mitfühlender, rücksichtsvoller und empathischer verhalten, als Männer dies tun. Allerdings gilt das natürlich nicht für alle Frauen und alle Männer – es gibt einfühlsame und nachgiebige Männer genauso wie rücksichtslose, unnachgiebige Frauen. Nur eben jeweils weniger als anders herum. Das bedeutet, viele Männer und Frauen entsprechen mehr oder weniger den Klischees, aber bei weitem nicht alle. Und natürlich verhalten sich so manche Menschen auch dem Geschlechter-Klischee entsprechend, obwohl es eigentlich nicht ihrem Charakter entspricht.

Intuition? In Maßen!

Das Fazit: die erfahrungsbedingte Intuition wird von allen Menschen eingesetzt, von Männern und Frauen gleichermaßen wie von theoretisch und praktisch denkenden Menschen. Die Macht der Intuition ist mit uns allen. Sie ist dort ein guter Ratgeber, wo wir bereits Erfahrung gesammelt haben oder es um gefühlsmäßige Entscheidungen geht. In unbekannten Bereichen sollten wir uns allerdings eher nicht auf unser unterbewusstes Bauchgefühl verlassen, sondern uns bewusst mit dem befassen, was vor uns liegt.

Weitere Artikel zum Thema: Intuition in der Bild der Wissenschaft, 5 Arten von Intuition im Karriere-Blog von Svenja Hofert, Geist und Gegenwart über Intuition
Bild: Flickr User John-Morgan

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3 Responses to Die Macht der Intuition – von Erfahrungswerten und mystischer Einsicht

  1. snappyshort sagt:

    Ein super Artikel mit einem spannenden Thema! 🙂

    Ich hab auch eine Anmerkung dazu: Jung hat ja damals auch schon in Gegensatz- oder „Spannungspaaren“ der Funktionen gedacht, also gehörte zu einer „mystischen Intuition“ eine unterentwickelte, primitive Wahrnehmung, die sich (und den Menschen) ständig in Konflikte stürzen. Licht und Schatten und so.

    Außerdem gebe ich dir Recht mit der „erfahrungsbasierten Intuition“. Wobei ja für Jung der Unterschied in der Wahrnehmung eines Menschen zwischen „Erfahrung/Sinneswahrnehmung“ und „Intuition“ lag.

  2. Hallo Lars,

    nach mittlerweile rund 13 Jahren Auseinandersetzung mit dem Thema intuitiver Entscheidungsfindung inklusive Promotion erlaube ich mir eine ergänzende Bemerkung:

    Intuition kann sehr wohl auch ohne langjährigen Erfahrungsschatz oder gar Expertise nützlich sein. Das Erklärungsparadigma dafür lautet „Unbewusste Wahrnehmung und Informationsverarbeitung“ in Ergänzung zu den Erklärungsmodellen „Erfahrungswissen“/“Tacit Knowledge“ und den mittlerweilen bekannten „Spiegelneuronen“.

    Wie sonst sollten auch Unternehmer intuitv erfolgreich Marktchancen, Standorte – kurz: Ihre Zukunft einschätzen können, wenn sie dafür erst ihre Erfahrung als Unternehmer mit dem neuen Unternehmen bräuchten. Umgekehrt können gerade Jung-Unternehmer nicht auf bestehende Fakten setzen, da es ja komplexe Zukunftsentscheidungen sind, die nicht linear aus Vergangenheitsdaten ableitbar sind.

    Mehr Infos dazu in meinem integral.blog im Artikel „Erklärungsmodelle (3): Intuition und unbewusste Wahrnehmung und Informationsverarbeitung“: http://goo.gl/7VM5Q

    Herzliche Grüße
    Andreas

  3. Lars Lars sagt:

    Hallo Andreas,

    Danke für deine Ergänzung.

    Was junge Unternehmer angeht: ich glaube kaum, das jemand sich aus dem Bauch heraus eine Nische oder ein Produkt sucht und intuitiv eine Firma dazu gründet. Das liegt eher an Planung, Vorausschauen und Leidenschaft für etwas – oder dem Bemerken eines akuten Bedarfs bzw. einer Verdienstmöglichkeit. Die Intuition dabei ist dann gefragt – wie von dir beschrieben – bei den Marktchancen, dem Standort, dem richtigen Zeitpunkt und der richtigen Herangehensweise, wobei das auch durch Kombination und rationales Denken machbar wäre – kommt eben ganz darauf an, um was für eine Art Unternehmen es geht.

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