Warum die Evolution unsere Persönlichkeit bestimmt

Vorteile durch Evolution

Alle Persönlichkeitseigenschaften, die wir heute haben, existieren aus einem bestimmten Grund: Sie haben in weit entfernter Vergangenheit einmal einen Vorteil gebracht.

Grundlegende Charakterzüge sind bereits ab der frühen Kindheit erkennbar. Die ungefähre Ausprägung der Persönlichkeitseigenschaften introvertiert/extrovertiert, hart/kooperativ und spontan/geplant ist oft schon ab einem Alter von ca. fünf Jahren grob einschätzbar, die restlichen bald danach. Im Zuge des Erwachsenwerdens treten unsere Persönlichkeitseigenschaften dann immer deutlicher hervor und bleiben meist bis ins hohe Alter ähnlich ausgeprägt. Aber warum haben wir überhaupt unterschiedliche Persönlichkeiten, warum sind nicht einfach alle Menschen gleich? Wenn jeder das optimale Verhalten hätte, wäre alles perfekt – oder nicht? Doch so leicht ist es nicht. Denn es gibt kein optimales Verhalten, das immer funktioniert. Wir können es mit einer Werkzeugkiste vergleichen: Für jede Situation gibt es das passende Werkzeug. Je nachdem, was wir machen wollen, brauchen wir ein anderes – manche davon häufiger und andere seltener. Natürlich können wir auch versuchen, mit einem Schraubenzieher einen Nagel in die Wand zu schlagen, werden uns dabei aber schwertun. Jede Situation und jede Umgebung erfordert eine andere Herangehensweise. Daher haben sich in unserer Evolution verschiedene Verhaltensweisen entwickelt.

Die Evolution ist eine der wichtigsten Grundlagen der Biologie und auch der Psychologie. Evolution bedeutet die Weitergabe von vererbbaren Merkmalen an die nächsten Generationen. Aufgrund des „Survival of the fittest“, korrekt übersetzt nicht das Überleben des Stärksten, sondern das Überleben der Starken, also des Überlebens derjenigen, die sich gut an die Umgebung angepasst haben. Über viele Generationen verändern sich diese Merkmale so weit, dass eine bestmögliche Anpassung an die Umgebung zustande kommt. Über viele Millionen Jahre führte dies zur Entwicklung unzähliger Lebensformen und schließlich auch zur Entstehung des modernen Menschen.

Der britische Naturforscher Charles Darwin war der Erste, der die Evolutionstheorie formulierte. Darwin hatte bei seinen Forschungsreisen festgestellt, dass auf den verschiedenen Galapagosinseln die jeweils dort heimischen Finken unterschiedlich geformte Schnäbel haben – an sich nicht besonders spektakulär. Interessant wird es aber, wenn man sich die Frage stellt, warum das so ist. Müssten nicht alle Finken die gleiche Schnabelform haben? Nein. Denn je nach Art des Nahrungsangebotes auf der jeweiligen Insel sind Vögel mit einer anderen Schnabelform im Vorteil: Mit dicken Schnäbeln lassen sich besser große Samen knacken, mit schmalen Schnäbeln lässt sich besser nach Nahrung in Baumlöchern suchen. Entwickelt haben sich die verschiedenen Schnabelgrößen durch natürliche Selektion: Die Finken mit den am besten an ihre Umgebung angepassten Merkmalen (dicke oder dünne Schnäbel) hatten die besten Überlebenschancen auf der jeweiligen Insel und haben daher die meisten Nachkommen produziert. Dementsprechend hatten die meisten neugeborenen Finken ebenfalls diese Erfolg versprechenden Merkmale, die sie ihrerseits über ihre Gene an ihre Nachfahren weitervererbt haben. Nun mag man sich fragen, warum dann auch innerhalb einer Inselpopulation die Schnabelgrößen leicht schwanken und nicht alle Finken einer bestimmten Insel die exakt gleiche – möglichst optimale – Schnabelform haben? Das liegt daran, dass diese optimale Schnabelform von Jahr zu Jahr eine etwas andere ist. Haben sich die Umstände verändert, z. B. durch eine Dürre und Nahrungsknappheit, waren Finken mit einem etwas breiteren Schnabel im Vorteil, sodass sich diese stärker verbreiten konnten. Unter anderen Bedingungen waren dann wieder die schmaleren Schnäbel besser. So kam es dazu, dass sich die Schnabelform um einen ungefähren Durchschnittswert eingependelt hat, mit Abweichungen in beide Richtungen. Ähnlich verhält es sich auch mit unserer Persönlichkeit.8

Warum es verschiedene Typen gibt

In der langen Menschheitsgeschichte brachte mal das eine Verhalten Vorteile, mal das andere – je nach Ort, Zeit und Umständen. Daher haben sich auch unsere Persönlichkeitseigenschaften um einen ungefähren Durchschnittswert eingependelt, der uns die meisten Herausforderungen des Lebens zufriedenstellend meistern lässt. Das ist auch der Grund, warum es viel mehr Menschen mit ungefähr mittigen Ausprägungen gibt als solche mit extremen Ausprägungen. Denn je stärker eine Ausprägung, desto seltener kommt sie vor. Der Kapitän der Persönlichkeit, unsere am höchsten ausgeprägte(n) Eigenschaft(en), hebt(en) uns daher am deutlichsten vom Durchschnitt und von anderen Menschen ab. Es ist die evolutionäre Eigenschaft, die außer uns nur ein geringer Prozentsatz anderer Menschen hat.

Fast alle unsere Verhaltensweisen haben einen evolutionären Hintergrund, waren also irgendwann einmal nützlich oder haben uns einen Vorteil verschafft. So haben wir z. B. eine natürliche Angst vor Schlangen und Spinnen. In unserer Vergangenheit als Jäger und Sammler war es von Vorteil, diese Tiere zu meiden oder zu bekämpfen, anstatt ihnen mit Gleichgültigkeit oder gar mit Interesse zu begegnen. In der heutigen Welt spielt diese Angst dagegen keine große Rolle mehr, stattdessen wäre eher eine natürliche Angst vor fahrenden Autos oder Steckdosen angebracht. Die Grundlagen dieser Angst zu kennen, kann uns helfen, entsprechend damit umzugehen und unser Verhalten zu verändern – zum Beispiel weniger Angst vor Spinnen zu haben, da zumindest in unseren Breiten keine reale Gefahr von ihnen ausgeht, und bei fahrenden Autos dafür mehr Vorsicht walten zu lassen.

Auch bei den Unterschieden zwischen den Geschlechtern spielt unsere Evolution eine große Rolle. Männer interpretieren ein Lächeln oder andere positive Signale von Frauen schnell als sexuelles Interesse, auch wenn dies meist gar nicht so gemeint ist. In unserer weit zurückliegenden Vergangenheit war es sicher von Vorteil für Männer, jede mögliche Gelegenheit zur Fortpflanzung zu nutzen, weswegen sie stark auf solche Signale reagierten. Für Frauen brachte Nachwuchs dagegen große Belastungen und Risiken mit sich, weswegen eine Fortpflanzung für sie wohlüberlegt sein musste. Und schließlich kommt auch unser Hunger nach süßem, salzigem und fettigem Essen daher, dass diese Nahrungsmittel in unserer Entwicklungsgeschichte nicht ansatzweise so leicht verfügbar waren wie heute. Das Verlangen nach ihnen hat früher dafür gesorgt, dass wir jede Gelegenheit nutzten, um sie zu uns zu nehmen und uns gut zu ernähren – während es heute dafür sorgt, dass wir mehr davon essen als nötig.

Unsere Persönlichkeit hat sich im Lauf der Evolution so entwickelt, dass es unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Profilen gibt: Spezialisten mit starken Ausprägungen der Eigenschaften genauso wie Allrounder in der Balance. So wie wir ganz selbstverständlich nicht alle das gleiche Aussehen und den gleichen Körperbau haben, haben wir auch nicht alle die gleiche Persönlichkeit. Äußerlichkeiten können wir sehen und daher leicht beurteilen. Auch dort gibt es Typen: blond und braunhaarig, klein und groß, dick und dünn. Und auch dort sind diese Typen Verallgemeinerungen, um ein Merkmal schnell und simpel zu erfassen. Die Details bemerken wir erst, wenn wir eine Person genauer betrachten. Die Details der Persönlichkeit „sehen“ wir nur anhand des Verhaltens und wenn wir eine Person gut oder länger kennen. Bei all diesen Unterschieden ist vor allem eine Erkenntnis wichtig: Wir alle haben viele Gemeinsamkeiten, aber auch viele Unterschiede innerhalb dieser Gemeinsamkeiten. Es gibt niemanden, der auf nichts empfindlich reagiert oder auf nichts resistent, keine Person, die immer geplant lebt oder immer spontan. Jeder von uns hat alle diese Eigenschaften, jeder Mensch ist zu einem gewissen Grad extrovertiert, zu einem gewissen Grad introvertiert usw. Unterschiede entstehen durch die Stärke der Ausprägung der jeweiligen Eigenschaften. In den vorangegangenen Kapiteln haben Sie bereits gelesen, dass niemand zu 100 Prozent auf einer Seite eines Eigenschaftenpaares liegt. Auch ein 90%iges Nutzen einer Seite ist sehr selten und führt höchstwahrscheinlich zu diversen Problemen.

Heute geht man davon aus, dass die Evolution dafür gesorgt hat, dass wir in der Regel weder zu viel noch zu wenig von einer gewissen Eigenschaft haben, z. B. weder extrem empfindlich noch extrem resistent sind. Denn auf diese Weise können wir bei Bedarf beide Seiten nutzen und sind so für unterschiedlichste Herausforderungen gewappnet. Eine extrem hohe Ausprägung bei einer Eigenschaft bringt zwar gewisse Vorteile mit sich, kann aber auch zu Problemen führen, wenn wir die andere Seite kaum nutzen, z. B. extrem hart mit anderen Menschen umgehen und kaum kooperativ sind. Keine Herangehensweise kann alle Probleme lösen – siehe das vorherige Beispiel mit dem Werkzeugkasten: Mit einem Hammer lässt sich keine Schraube drehen. Es zahlt sich daher aus, mit verschiedenen Verhaltensweisen umgehen zu können. Doch können wir unser Verhalten anpassen? Und wenn ja, wie?

Unsere Persönlichkeit ist weder unveränderlich in Stein gemeißelt noch ist sie ein leeres Blatt Papier, das sich beliebig beschreiben oder falten lässt. Am ehesten kann man sagen, sie ist in Holz geschnitzt: Wir können ihre grundlegende Form nur schwer verändern, aber an vielen Details arbeiten. Das Wissen über unsere evolutionär bedingte Vorliebe für fettiges und süßes Essen, hilft uns zu verstehen, warum dies so ist – und gibt uns so die Möglichkeit, entsprechend gegenzusteuern. Auf ähnliche Weise können wir auch dank dem Wissen über die Persönlichkeit lernen, wie wir besser mit den verschiedenen Eigenschaften umgehen können.
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