Religionen geben uns das, was wir haben wollen
Psychologen und Historiker beschäftigen sich immer wieder mit der Frage, was Menschen zu den vielseitigen Religionen hinzieht, die es auf unserem Planeten gibt. Steven Reiss behauptet in seinem Buch The 16 Strivings for God, die Antwort darauf gefunden zu haben. Seine Theorie: Religionen erfüllen alle – bzw. die 16 Wichtigsten – Grundbedürfnisse des Menschen.
Steven Reiss hat in der Vergangenheit das Reiss Profile entwickelt, eine Art Persönlichkeitstest, der misst welche Bedürfnisse beziehungsweise Motivationen bei einem Menschen besonders ausgeprägt sind. Mit Hilfe von Studien hat er eine Liste von 16 Bedürfnissen erstellt, die seiner Meinung nach am Bedeutendsten sind:
- Anerkennung
- Ehre
- Essen
- Familie
- Idealismus
- Körperliche Aktivität
- Liebesbeziehungen
- Macht
- Neugier
- Ordnung
- Rache
- Ruhe
- Soziale Kontakte
- Sparen
- Status
- Unabhängigkeit
In seinem neuen Buch argumentiert er, das Religionen alle dieser Bedürfnisse auf die eine oder andere Weise erfüllen und auch in der langen Menschheitsgeschichte erfüllt haben – beziehungsweise eine Hilfestellung bei der Erfüllung dieser Bedürfnisse bieten. Jeder Mensch, egal welche Bedürfnisse bei ihm besonders ausgeprägt sind, findet in der Religion ein Sprungbrett, um seine Bedürfnisse zu erreichen.
Menschen mit der Charaktereigenschaft extrovertiert finden durch religiöse Zusammenkünfte soziale Kontakte, Menschen die eher introvertiert sind, finden durch Gebete oder Meditation Ruhe. Führungspositionen innerhalb einer Glaubensgemeinschaft bieten einen Zugang zu Macht, Status und Anerkennung, und gerade in unserer dunkleren Vergangenheit auch die Möglichkeit zur Rache. Andere Menschen finden in Religion eine Gelegenheit, ihren Idealismus und den Glauben an das Gute im Menschen auszuleben, ihre Familie enger zusammen zu bringen – oder in der Glaubensgemeinschaft eine Familie und Liebesbeziehung zu finden. Essen nimmt in traditionellen religiösen Festlichkeiten oft einen sehr hohen Stellenwert ein, und auch die Bedürfnisse nach Ehre und Ordnung lassen sich durch Einhaltung religiöser Glaubensregeln und Moralvorstellungen befriedigen.
Alle menschlichen Grundbedürfnisse sind demnach auch Bestandteil von Religionen. Diese Erkenntnis ist zum einen faszinierend, und erklärt die bis heute anhaltende, teils extreme Bedeutung von verschiedensten Glaubensgemeinschaften rund um die Welt. Gleichzeitig ist sie überhaupt nicht verwunderlich. Denn Religionen gibt es seit Anbeginn der Zivilisation, sie haben in allen Epochen der Geschichte einen erheblichen Anteil im Leben und der Lebensordnung der Menschen eingenommen, sind oft der Mörtel der ganze Völker zusammenhält. Dementsprechend sind sie absichtlich so gestaltet, alle Bedürfnisse der Menschen auf die eine oder andere Weise anzusprechen, zu befriedigen und zu kontrollieren.
Nur eine beliebige Liste?
So logisch und faszinierend diese Erkenntnisse auch sind, dürfen wir jedoch eines nicht vergessen: die Liste der 16 Bedürfnisse des Reiss Profiles nach Steven Reiss sind kein wissenschaftlicher Konsens, keine allgemein anerkannte Grundlage menschlicher Motivationen. Sie sind nur eine von vielen Theorien, um menschliche Bedürfnisse zu erklären. Es gibt berechtigte Kritik an ihnen, allen voran das sie eine relativ beliebige Zusammenstellung sind. Statt 16 könnte man genauso eine Liste aus 12 Motivationen erstellen, oder aus 24, oder aus 37. Denn manche von ihnen könnten weggelassen werden, andere fehlen dafür komplett.
Gerade im Zusammenhang mit Religion fällt auf, dass beim Reiss Profile keine Motivationen enthalten sind, welche die Suche nach Glauben, Bedeutung und Spiritualität beinhalten. Oder das Bedürfnis nach Vergebung und Erlösung. Oder das Bedürfnis anderen zu helfen, im Zusammenhang mit Empathie. DIE zentralen Themen von Religionen und damit auch sehr wichtige menschliche Bedürfnisse. Auch das bei vielen Menschen ausgeprägte Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Fairness findet sich nicht in den 16 Motivationen von Reiss. Von diesen Beispielen ließen sich noch viel mehr finden, und sie zeigen deutlich, dass die 16 Bedürfnisse des Reiss Profile unvollständig sind und definitiv keine ultimative Auflistung DER zentralen menschlichen Motivationen.
Dennoch ist die Betrachtung dieser Bedürfnisse im Zusammenhang mit Religionen sehr aufschlussreich. Ich lehne mich einmal aus dem Fenster und behaupte, dass auch bei erweiterten Listen mit mehr Bedürfnissen dieselbe Schlussfolgerung zu Stande kommen würde: unabhängig davon, was man von Religionen hält, sie haben sich so entwickelt, dass sie alle oder nahezu alle menschlichen Bedürfnisse beinhalten. Heute, wo wir alle diese Bedürfnisse auch auf vielseitige andere Weise befriedigen können, spielt das keine so große Rolle mehr. Aber in unserer Vergangenheit waren Religionen oft die sicherste, wenn nicht sogar manchmal die einzige Möglichkeit, viele dieser Bedürfnisse zu befriedigen.
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Das neue Buch von Steven Reiss: The 16 Strivings for God
Weitere Bücher von Steven Reiss#
Andere Persönlichkeitsmodelle, die nicht auf Motivationen basieren:
Big Five (wissenschaftlich), Enneagramm (spirituell), Gallup StrengthsFinder (Stärken), Riasec (Berufsinteressen),