Um unsere Persönlichkeit zu erklären, existieren sowohl fiktive Luftschlösser, als auch solide Häuser, die sich auf harte Fakten stützen. Doch woran erkennt man sie jeweils?
Psychologie in der Realität verankert
Psychologie und Persönlichkeitsforschung werden oft nicht ernst genommen, da sie im Vergleich zu den „harten“ Wissenschaften wie Mathematik oder Chemie keine definitiven Antworten und Beweise liefern können. Doch psychologische Forschung entspricht nicht dem Bild des Psychiaters, der dem Patienten auf der Couch zuhört und sich daraus seine Theorien zusammenspinnt. Diese immer noch gebräuchliche Vorstellung ist mehr als 100 Jahre alt und längst überholt.
Das wichtigste Mittel der heutigen Psychologie ist und bleibt die von vielen ungeliebte Statistik. Da jedoch Menschen genauso unterschiedlich sind wie einzelne Schneeflocken, und es daher nie zwei exakt Gleiche geben kann, kann es auch nie eine perfekte Statistik geben, denn jeder Mensch wird anders antworten und die Ausnahme bestätigt die Regel. Aber es gibt Muster. Zum Beispiel kann man durch Befragungen von Studienteilnehmern oder von Bekannten dieser Teilnehmer herausfinden, wie häufig diese in Konflikte und Streitereien geraten. Gleichzeitig kann man ihre Persönlichkeit mit einem Test erfassen. Das macht man dann mit tausenden und abertausenden von Menschen. Erhält man nun das Ergebnis, dass Menschen mit einer niedrigen Ausprägung in der Eigenschaft Verträglichkeit besonders häufig in Konflikte geraten – häufiger als solche mit einer hohen Verträglichkeit – dann hat man eine überprüfbare Aussage.
Diese Aussage über die Persönlichkeitseigenschaft Verträglichkeit wurde damit in der Realität nachgewiesen. Natürlich trifft dieser Zusammenhang nicht auf alle Teilnehmer zu, denn wir Menschen sind sehr individuell und unterschiedlich. Eine Aussage wie z.B. „Wer niedrige Verträglichkeit hat, MUSS IMMER in Konflikte geraten“ lässt sich also nicht machen, bei keiner Eigenschaft und keinem Verhalten. Man kann immer nur Zusammenhänge herausfinden, keine definitiven Formeln wie in der Mathematik. Denn wir Menschen sind nicht komplett berechenbar und werden es auch nie sein. Persönlichkeitseigenschaften und Erkenntnisse aus Studien lassen sich daher nie auf jeden einzelnen und letzten Menschen anwenden, sondern nur auf die Meisten von uns.
Dennoch können wir mit Hilfe solcher Statistiken viel herausfinden. Hat man die Teilnehmer der Studie oder deren Bekannte gleichzeitig noch andere Dinge gefragt, so weiß man zum Beispiel, dass die Anzahl der Freunde, sowie die Geselligkeit und die Unternehmungslust einer Person generell nicht mit der Verträglichkeit zusammenhängen. Ob die Verträglichkeit niedriger oder höher ausfällt, hat demnach nichts damit zu tun, ob eine Person eher introvertiert oder extrovertiert ist. Macht man nun hunderte oder gar tausende solcher Studien, weiß man irgendwann recht viel darüber, wie unser Verhalten und unsere Persönlichkeit zusammenspielen.
Zum modernen Persönlichkeitsmodell der Big Five und seinen Variationen (wie z.B. das Hexaco) gibt es eine eben solche hohe Anzahl an Studien. Deswegen handelt sich dabei nicht nur um eine luftige Theorie, sondern um Aussagen, die tatsächlich durch tausende Studien in der Realität überprüft und bestätigt wurden, die mit festen Mauern auf dem Boden stehen. Auf dieser Basis können Persönlichkeitstests erklären wie wir uns verhalten (werden), mit was dies zusammenhängt und woher dies kommt. So wissen wir zum Beispiel, dass Menschen mit einem hohen Neurotizismus (Empfindlichkeit) anfälliger gegenüber Stress sind, schneller Depressionen bekommen und daher mehr Fehltage auf der Arbeit haben. Heutzutage kennen wir sehr viele solcher Zusammenhänge, manche davon eher banal wie das vorherige Beispiel, andere überraschend, wie z.B. das Sport uns nicht nur körperlich, sondern auch psychisch widerstandsfähiger gegen Stress macht (siehe Artikel).
Verlässliche Persönlichkeitsmodelle fußen daher immer auf solchen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Denn nur so können wir feststellen, ob die Behauptungen über Eigenschaften und Typen auch der Realität entsprechen oder nur Fantasie sind. Ich kann zum Beispiel behaupten: Blondinen sind dumm. Für Manchen mag diese Aussage Sinn machen, vielleicht kennt er oder sie wirklich besonders viele nicht allzu intelligente Blondinen. Allgemein ist sie jedoch falsch. Blondinen sind in keinster Weise weniger intelligent wie Frauen mit anderen Haarfarben. Daher sind persönliche Beobachtungen trügerisch und können über die Realität hinwegtäuschen. Vielleicht sind mehr als die Hälfte aller Bankangestellten die ich kenne, extrovertierte Partymonster. Die meisten Bankangestellten die Sie kennen, sind jedoch ruhige Stubenhocker. Das heißt jedoch noch nicht, das diese Bilder und Erwartungen die wir in unseren Köpfen haben, auch auf den Rest der Bevölkerung zutreffen.
Viele von den Persönlichkeitsmodellen und Tests, die auch heute noch durchs Netz schwirren, basieren dennoch auf solch persönlichen Beobachtungen und Theorien. Die mögen auf das Umfeld desjenigen der sie erdacht hat, zustimmen. Aber das heißt noch lange nicht, dass z.B. die Idee vom Typ Intelligenzbestie, der superschlau ist, aber total unordentlich und menschenscheu, auch der Realität entspricht. Klar finden sich viele Menschen, auf die diese drei Eigenschaften zutreffen. Aber sieht man sich ein paar hundert oder gar tausend intelligente Menschen an, findet man plötzlich heraus, dass diese Theorie falsch ist: Intelligenz hängt nicht mit fehlender Ordnung oder Schüchternheit zusammen.
Nicht auf wie viele Menschen etwas zutrifft ist entscheidend, sondern auf wie viele es nicht zutrifft
Durch Überprüfung zahlreicher Fakten und Begebenheiten in jahrzehntelanger Forschung wissen wir heute sehr viel über unsere Persönlichkeit. Und wir können auch leicht sagen, welche Behauptungen nicht stimmen, z.B. die dumme Blondine. Viele alte Persönlichkeitsmodelle können wir daher heute getrost als falsch oder obsolet betrachten. Das heißt nun nicht, dass sie nur unsinnige Aussagen machen und nichts von ihnen stimmt. Bei Manchen sind nur Teile fehlerhaft, bei anderen das ganze Konstrukt. So weiß man z.B., dass sämtliche Persönlichkeitsmodelle auf Basis von C.G. Jungs Typen, wie der MBTI, David Keirsey und GPOP, zwar nicht komplett daneben liegen, im Detail aber sehr viele Unwahrheiten und Fehler beinhalten. Auch die Beschreibungen der antiken Temperamente wie Choleriker, Phlegmatiker und Co. treffen zwar auf bestimmte einzelne Personen zu, aber auf noch viel mehr Personen eben nicht. Ebenso die vier Typen vom vor allem in Unternehmen genutzten DISG-Test oder die neun Typen vom spirituellen Enneagramm: es gibt sie in der Realität öfters nicht, als das es sie gibt. Sie sind künstliche Konstrukte, Ideen. Mehr nicht. Auf manche Menschen treffen sie zu, aber auf die meisten nicht und genau das ist der entscheidende Punkt.
Nur weil uns im Bekleidungsgeschäft eine Jacke wie angegossen passt, können wir noch nicht davon ausgehen, dass sie anderen Menschen auch passt und auch nicht, dass von den acht Typen verschiedener Jacken die der Laden hat, jedem Menschen eine passen muss. Denn in Wirklichkeit passen vielleicht nur 30% aller Menschen eine dieser Jacken. Weitere 50% können die Jacken zwar anziehen, aber so richtig passt ihnen keine davon. Die restlichen 20% können überhaupt keine der Jacken anziehen, weil ihnen ihre Maße überhaupt nicht passen. Genauso ist es mit vielen Persönlichkeitsmodellen, Eigenschaften und Typen: Nur weil etwas auf uns und Menschen in unserer Umgebung passt, heißt das noch lange nicht, das es allgemein gültig ist. Selbst von völlig falschen Dingen, von denen wir längst wissen, dass sie nichts als ausgedachte Fantasie sind, wie der Astrologie, finden sich genug überzeugte Anhänger, die darauf bestehen, dass deren Beschreibungen auf sie und auch auf alle anderen Menschen zutreffen. Weil sie das sehen, was sie sehen wollen und sich die Welt nach ihrem eigenen Bild ausmalen. Dabei lassen sich diese Dinge ganz einfach in der Realität prüfen, und feststellen, dass sie falsch sind.
Es ist daher leider sinnlos, von sich selbst auszugehen und zu sagen: Auf mich passt die Beschreibung, daher muss sich jeder in diesen Persönlichkeitstypen wieder finden! Denn unser eigener Eindruck trügt uns oftmals. Wir bestätigen gerne das, was wir schon wissen und werden leicht beeinflusst, wenn andere etwas über uns sagen. Der so genannte Barnum-Effekt ist ein psychologisches Phänomen, dass wir vage und allgemeine Aussagen über uns als treffend empfinden. Wir identifizieren uns gerne mit ihnen, da sie positiv beschrieben sind und oft vernünftig klingen – bis zum Abgleich mit der Realität.
Persönlichkeitsmodelle, die aufgrund persönlicher Beobachtungen, Ideen und Theorien entstanden sind, anstatt anhand von rigorosen Studien, entpuppen sich beim Realitätscheck daher meist als Luftschlösser. Daher ein kleiner Appell an alle Anhänger von MBTI, Keirsey, DISG, Enneagramm und Co: diese Modelle mögen stimmig wirken. Sie sind aber nicht realitätsnah, ganz unabhängig davon, wie sehr man denkt sie würden auf alle Menschen passen. Tausende Studien haben gezeigt, dass unser reales Verhalten nicht so funktioniert wie die Fiktion dieser Modelle. Denn die Realität lässt sich nicht in eine Jacke zwängen. Als Gedankenanregung oder Unterhaltung taugen solche Persönlichkeitsmodelle, aber ein Abbild der tatsächlichen Persönlichkeit sind sie nicht, sondern nur eine Fiktion mit realen Elementen, ähnlich einem Film der zwar auf einer realen Geschichte beruht, sie aber ganz anders darstellt, als sie in Wirklichkeit ist. Ein Luftschloss eben.
Fazit: Abheben oder landen?
Auch wissenschaftliche Modelle wie die Big Five und Co haben ihre Fehler. Sie mögen nicht die hübschesten sein, aber ihre Mauern stehen auf dem Boden der Tatsachen und ihre Aussagen und Behauptungen sind überprüfbar, beziehungsweise wurden bereits überprüft. Nicht nur statistisch, sondern mittlerweile immer öfter auch neurologisch. Ob man nun lieber schöne Luftschlösser oder das schnöde Haus am Boden vorzieht, sei jedem selbst überlassen. Wenn man etwas über die Realität erfahren möchte, sollte man jedoch nicht ins Luftschloss fliegen, sondern das Haus betreten.
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Neuschwanstein-Bild von Justin Mier