Big Five doch nicht universell gültig?

Die Big Five der Persönlichkeit, die fünf bedeutendsten Persönlichkeitseigenschaften, gelten seit mehr als zwei Jahrzehnten als das beste Modell zur Erklärung unserer Persönlichkeit – und zwar auf der ganzen Welt in allen Kulturen und Ländern… auf der ganzen Welt? Nein. Eine kleine Zivilisation von Jägern und Bauern im Dschungel Boliviens scheint eine andere Persönlichkeit zu haben als der Rest der Welt.

Tsimane von Photo RNW.org / Piotr Strycharz / Flickr

Die einzigartige Persönlichkeit der Tsimane

Die Big Five sind seit langem der Standard der Persönlichkeitsforschung. In fast allen Studien zum Thema Persönlichkeit & Verhalten werden sie genutzt und in unterschiedlichsten Kulturen rund um die Welt wurden sie bestätigt. Zwar gibt es immer wieder lokale Unterschiede in manchen Ländern, z.B. was die genaue Definition der Offenheit für neue Erfahrungen angeht. Im Großen und Ganzen bestehen jedoch keine ernsthaften Zweifel an der Validität der Big Five. In verschiedenen Studien wurden die einzelnen Big Five Faktoren sogar mit konkret messbaren chemischen Prozessen im menschlichen Körper oder mit bestimmten Gehirnregionen in Verbindung gebracht. Es scheint also, dass die Big Five kein rein theoretisches Konstrukt, sondern grundsätzlich in der Biologie unseres Körpers beziehungsweise in unseren Genen verankert sind.

Umso überraschender die Ergebnisse einer Studie aus Bolivien von 2012. Untersucht wurde darin die kleine Jäger und Bauern-Gesellschaft der Tsimane, die im Dschungel von Bolivien zu Hause sind und denen schätzungsweise etwa 10.000 Menschen angehören. Diese Menschen können größtenteils nicht Lesen oder Schreiben und haben kaum Kontakt mit der modernen Zivilisation oder anderen Kulturen. Freundlich und gelassen zu sein, so wie Konfrontationen und den Ausdruck von Ärger zu vermeiden, wird bei ihnen als korrektes Verhalten angesehen und ist tief in ihrer Kultur verwurzelt. Nun ist natürlich interessant, ob diese Menschen die gleichen Persönlichkeitsmerkmale aufweisen, wie die Menschen in modernen Kulturen – also wir.

Dazu wurden insgesamt 1000 Tsimane befragt. Da nur die wenigsten der Tsimane Spanisch sprechen können, musste ein Big Five Test speziell in ihre Sprache übersetzt werden. Da ebenfalls nur wenige von ihnen Lesen können, wurden die Fragen und Antworten von speziell ausgebildeten Personen aus ihrer eigenen Gemeinschaft vorgelesen und ausgewertet. Überraschender Weise zeigte sich die Nachweisbarkeit der Big Five bei den Tsimanen erheblich geringer, als erwartet. Das bedeutet, die messbaren Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Fragen untereinander, bzw. zwischen den Fragen und den ihnen zugeordneten Persönlichkeitseigenschaften, erreichten bei weitem nicht die Qualitätswerte, die man von aktuellen Persönlichkeitstests erwartet. Zwar war es nicht so, dass man die Big Five bei den Tsimanen gar nicht messen konnte. Man konnte sie im Gegenteil sogar recht deutlich feststellen. Nur eben bei weitem nicht so klar und verlässlich, wie normalerweise üblich.

Neurotizismus, die Empfindlichkeit auf negative Einflüsse, schnitt dabei am Schlechtesten ab. Besonders bei der Einschätzung des Partners (was ebenfalls Teil der Studie war) zeigte sich eine nur sehr geringe interne Konsistenz für die Fragen betreffs Neurotizismus. Am zuverlässigsten waren die Ergebnisse dagegen bei Extraversion und Gewissenhaftigkeit. Dort erreichten die Fragen akzeptable Werte bei den internen Zusammenhängen. Zum Vergleich: die Werte der Reliabilität, also der internen Konsistenz der Fragen mit den jeweiligen Persönlichkeitseigenschaften, waren zwar erheblich schlechter als bei Big Five Studien in modernen Kulturen, aber immer noch auf einem vergleichbaren Niveau wie bei anderen Persönlichkeitstests, die nicht die Big Five als Grundlage verwenden, z.B. beim MBTI. Davon, dass die Big Five bei dem Tsimanen gar nicht feststellbar gewesen seien, kann also keine Rede sein.

Gründe

Warum waren die Ergebnisse bezüglich der Nachweisbarkeit der Big Five so schlecht? Ein gewichtiger Grund hierfür mögen Probleme beim Übersetzen gewesen sein: viele unser Konzepte von Persönlichkeit ließen sich nicht gut in die Sprache der Tsimane transferieren. Die kulturellen Unterschiede sind so groß, dass viele bei uns übliche soziale Konzepte bei den Tsimanen nicht oder nur in anderer Form existieren.

Zwar hat sich bei der Analyse der Ergebnisse gezeigt, dass sich die Persönlichkeit der Tsimane nur mäßig mit den Big Five beschreiben lässt, mit einem anderen Modell dafür umso besser. Nämlich mit einer zwei Faktoren-Lösung, also mit zwei großen, breit angelegten Persönlichkeitseigenschaften. Die eine stellt die generelle prosoziale Einstellung der Person dar (in Teilen vergleichbar mit Altruismus), die andere Fleiß und Strebsamkeit (quasi das Gegenteil von Prokrastination und Lethargie). Offensichtlich handelt es sich bei diesen beiden Eigenschaften um die wichtigsten und entscheidensten Persönlichkeitsmerkmale im Leben der Tsimane.

Doch warum sind diese Merkmale bei den Tsimanen anders als in modernen Zivilisationen? Möglicherweise aufgrund der Evolution, welche sowohl in unseren Kulturkreisen als auch bei den Tsimanen die Entwicklung der jeweiligen Persönlichkeitseigenschaften unterschiedlich beeinflusst hat. Alle Menschen und Kulturen mögen den gleichen Pool an Eigenschaften haben, aus denen sie schöpfen, aber diese setzen sich anders zusammen: je nach Kultur und den vererbten Genen nutzen sie manche Eigenschaften vielleicht gar nicht und andere dafür stärker. Daher sind die Big Five bei den Tsimanen durchaus messbar, aber eben nicht so deutlich wie in anderen Kulturen. Und deshalb beschreibt ein anderes Modell, nämlich die oben genannten zwei großen Eigenschaften, die Persönlichkeit der Tsimane akkurater. Doch wie kam es dazu?

Ein Beispiel: Erfolg hängt bei den Tsimanen hauptsächlich von der Fähigkeit ab, Essen zu produzieren und die Familie zu versorgen. Daher gibt es viel weniger Möglichkeiten, seine Persönlichkeit – bzw. sein Leben und seine Interessen im Allgemeinen – auszuleben. Der Fokus des täglichen Lebens liegt bei ihnen auf ganz anderen Dingen als in weiter entwickelten, modernen Zivilisationen. Aufgrund dessen macht es Sinn, dass sich auch die Persönlichkeit dieser Menschen anders entwickelt hat, bzw. in einem anderen Entwicklungsstadium befindet, bzw. durch kulturelle und soziale Umstände anders bewertet wird, als in modernen Gesellschaften. Zum Beispiel ist es in der sehr familiär und gemeinschaftlich aufgebauten Gesellschaft der Tsimane nicht üblich, von persönlichen Erfolgen und Errungenschaften zu erzählen. Daher ist in diesem Zusammenhang ihr Verständnis von Extraversion abweichend von unserem. Auch Kreativität wird anders bewertet und lange nicht so sehr geschätzt wie bei uns, da dass Ausprobieren von Neuem – z.B. Essen, unbekannte Pflanzen, Arbeitstechniken oder die Integration von Fremden – potenziell lebensgefährliche oder existenzbedrohende Risiken mit sich bringt. Von diesen Beispielen gibt es unzählige weitere, da sich ihre Kultur und ihr Alltag fundamental von unserem unterscheidet.

Fazit

Ist diese Studie ein Beweis dafür, dass die Big Five nicht universell existieren? Nein. Sie untermauert allerdings die Erkenntnis, dass die menschliche Persönlichkeitsstruktur überall auf der Welt grundsätzlich relativ ähnlich ist, aber eben nicht gleich. Extreme kulturelle Unterschiede wie die der Tsimane zu modernen Kulturen, können sich sehr stark auf die reale und wahrgenommene Persönlichkeit von Individuen auswirken. So stark, dass sie Persönlichkeitsmerkmale anders definieren und einen Fokus auf andere Eigenschaften haben. Auf gewisse Weise ist daher jeder Mensch gleich und jeder Mensch anders.

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Quelle:
Universal’ Personality Traits Don’t Necessarily Apply to Isolated Indigenous People; Link

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