Hikikomori: extreme Introversion in Japan

Dieses Thema ist gleichermaßen kurios wie traurig und ernst. In Japan gibt es Menschen, die sich so stark introvertiert verhalten, dass sie den realen Kontakt zur Außenwelt nahezu komplett abschneiden und sich dauerhaft in ihrem Zimmer einschließen, während sie von ihrer Familie versorgt werden. Man nennt diese Personen Hikikomori.

Hikikomori,Bild von Francesco Jodice, 2004

Hikikomori

Hikikomori bedeutet extremen Rückzug von der Gesellschaft. Die Betroffenen weigern sich das Haus zu verlassen und werden komplett von ihrer Familie – meist den Eltern – versorgt. Meistens beginnen die Symptome mit vermehrtem sozialem Rückzug der immer stärker wird, bis irgendwann eine nahezu vollständige soziale Isolation erreicht ist und die Hikikomori ihr Zimmer so gut wie gar nicht mehr verlassen.  In vielen Fällen sind Hikikomori sehr nachtaktiv, verlassen manchmal nachts doch das Haus und verbringen ihre Zeit ansonsten meist mit Medienkonsum: Bücher, Mangas, Fernsehen, Internet, Videospiele, etc. Die Hikikomori Phase dauert mindestens mehrere Monate, in manchen Fällen aber auch Jahre oder gar Jahrzehnte an.

Es handelt sich bei Hikikomori in Japan nicht um absolute Einzelfälle, sondern das Phänomen des sozialen Rückzuges und urbanen Einsiedlertums ist tief in der japanischen Gesellschaft verankert, wobei die Hikikomori das Extrem davon darstellen. Die Schätzungen reichen von 50.000 Betroffenen bis hin zu einer Million oder noch mehr (bei 127 Millionen Einwohnern). Eine realistische Zahl dürfte irgendwo bei etwa 200.000 liegen und ist natürlich abhängig davon, welche Kriterien für die Definition von Hikikomori angewandt werden. Vom japanischen Gesundheitsministerium wird eine Person ab sechs Monaten der totalen(!) sozialen Isolation als Hikikomori bezeichnet. Die meisten Hikikomori sind junge Erwachsene unter 30 Jahren und der Großteil von ihnen ist männlich, wobei das Phänomen durchaus auch Frauen betrifft (Schätzungen gehen von 10-20% weiblichen Hikikomori aus).

Dadurch, dass sozialer Rückzug in Japan an sich nichts Ungewöhnliches ist, wird das Problem vielfach erst spät erkannt und die Betroffenen weiterhin von ihren Eltern umsorgt, ohne sie aus ihrer Isolation heraus zu zwingen. Auch weil in der japanischen Kultur das Zugeben von Problemen stigmatisiert und ein solches Eingeständnis als Schande angesehen wird, suchen Betroffene bzw. deren Eltern häufig erst sehr spät Hilfe, obwohl es von der Regierung sogar spezielle Hilfsangebote für Hikikomori gibt.

Die Ursachen für den extremen Rückzug sind vielfältig. Ein Grund wird darin gesehen, dass Hikikomori mit den Anforderungen und der hohen Erwartungshaltung der japanischen Gesellschaft und des rigiden, häufig von Mobbing geprägten japanischen Schulsystems nicht klarkommen. Durch Versagensängste fühlen sie sich für das soziale Miteinander und den enormen gesellschaftlichen Erfolgsdruck nicht gewappnet. Diese Ängste lassen auf eine hohe psychische Vulnerabilität schließen, also die Anfälligkeit gegenüber negativen Einflüssen und die Unfähigkeit, sich von persönlichen Rückschlägen und Widrigkeiten des Lebens zu erholen (das Gegenteil davon ist Resilienz). Vulnerabilität hängt wiederum mit der Persönlichkeitseigenschaft des Neurotizismus zusammen, die allgemein die Empfindlichkeit gegenüber negativen Emotionen beschreibt. Auch die Angst vor dem Kontakt mit anderen Menschen und Unsicherheit im sozialen Umfeld in Form von stark ausgeprägter Schüchternheit ist sicher ein mitbestimmender Faktor. Hikikomori sind daher nicht einfach nur extrem introvertiert und widmen sich exzessiv der Introspektion = dem Nachdenken über und Beschäftigen mit sich selbst, sondern es spielen verschiedene psychologische und gesellschaftliche Phänomene zusammen.

Ein weiterer Grund mag sein, dass die japanische Kultur nicht nur ungesunden Perfektionismus fördert, da Probleme nicht offen zugegeben werden, sondern auch die Bildung zweier verschiedener Persönlichkeiten, die in diesem Ausmaß bei uns nicht bekannt ist: der Fassade nach außen, die 99% aller Menschen gezeigt wird, und der echten Persönlichkeit und echten Gefühle, die nur die engsten Vertrauten zu Gesicht bekommen. Das gerade heranwachsende Jugendliche Probleme damit haben, ihre Identität zu definieren und sich in einer Gesellschaft voller strenger Regeln und Hierarchien wieder zu finden, ist nicht verwunderlich. Erst recht nicht, wenn es die wahre Identität vor Fremden zu verbergen gilt. Dazu kommt, dass es Außenseiter und Individualisten in der japanischen Kultur besonders schwer haben, da die Werte der traditionellen Familie und eine klare Rollenverteilung als sehr wichtig angesehen werden: der Mann gilt meist als Alleinversorger und die Frau als reine Hausfrau und Kindererzieherin. Das sind natürlich Rollen, die in vielen jungen Menschen Druck erzeugen, dem sie nicht standhalten wollen oder können, und sich dadurch als unfähig ansehen, ihren eigenen Platz in einer Gesellschaft zu finden, die ihnen nur feste Rollen vorgibt.

Im Gegensatz dazu wird bei uns im Westen die Individualität und Unabhängigkeit, sowie das Ausbrechen aus festen sozialen Rollen gefördert und oft auch zelebriert – in Japan bringt dies jedoch Probleme in der gesellschaftlichen Akzeptanz mit sich. Eine Auszeit in Form von längeren Reisen, einem sozialen Jahr oder dem Ausprobieren von künstlerischen Tätigkeiten oder verschiedenen Studienrichtungen oder Jobs ist hierzulande problemlos anerkannt. In Japan aber nicht. Jugendlichen auf der Suche nach Sinn oder einem Ziel bleibt dort oftmals nur der soziale Rückzug als Ausweg.

5 Gruppen von Hikikomori

In einer Studie wurden grob fünf verschiedene Gruppen von Hikikomori definiert. Betroffene können meist einer davon oder einer Kombination der Gruppen zugeordnet werden.

  • Kranke Menschen mit psychischen Problemen bzw. psychischen Störungen.
  • Otakus: obsessive Nerds, die sich hauptsächlich mit Popkulturprodukten wie Animes, Mangas, Internetkonsum oder Videospielen beschäftigen. Der Großteil von Otakus ist nicht automatisch auch dem Phänomen der Hikikomori zuzuordnen, aber es gibt einige Überschneidungen zwischen den Gruppen.
  • Alternative: Menschen, die alternative Lebensmodelle suchen und sich nicht in die klassische gesellschaftliche Rollenverteilung einordnen möchten.
  • Einsiedler: Menschen die bewusst oder unbewusst Einsamkeit und Isolation suchen.
  • Menschen in einer Übergangsphase (z.B. zwischen Schule und Arbeitsleben), die Orientierung suchen und das Risiko einer Fehlentscheidung nicht eingehen möchten.

Unabhängig von den Beweggründen für die soziale Isolation ist das Hikikomori Phänomen zu einem ernsthaften Problem in der japanischen Kultur geworden. In gewisser Form lässt sich Hikikomori allgemein als eine Art von Persönlichkeitsstörung bezeichnen, wobei die größte Ähnlichkeit zu den bei uns bekannten Phänomenen der Sozialphobie und der ängstlich-vermeidenden-Persönlichkeitsstörung vorliegt. Darüber, ob eventuell auch ein Zusammenhang mit dem Phänomen der Hochsensibilität vorliegt, gibt es bisher leider keine Untersuchungen. In Ländern Außerhalb Japans sind mit Hikikomori vergleichbare Phänomene bisher nur in Form von wenigen Einzelfällen bekannt. Das Problem liegt daher nicht an den Betroffenen, sondern an den kulturellen Eigenheiten Japans, welche die steigende Anzahl der Hikikomori über die letzten Jahre und Jahrzehnte gefördert haben. Ein Ausweg wird sich daher nur in kulturellem Umdenken und Abkehren von rigiden sozialen und gesellschaftlichen Strukturen finden, um den Betroffenen eine neue Perspektive zu bieten. In einer Gesellschaft, in der Fehler zu machen und das Ziellose sich selbst Ausprobieren erlaubt sind und in der jeder eine zweite Chance bekommt.
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Literatur zum Thema:
Deutschsprachige Sachbücher zum Thema Hikikomori gibt es nicht, allerdings zwei Romane, die sich damit befassen:

Hikikomori von Kevin Kuhn: in der Geschichte geht es um einen von Hikikomori betroffenen jungen Mann, der sich immer mehr in seine Einsamkeit zurückzieht und dem es schwer fällt, mit seinem Leben klarzukommen.


In READY PLAYER ONE! von Ernest Cline geht es um eine in nicht allzu ferner Zukunft spielende Science Fiction Geschichte, in der ein Großteil der Gesellschaft zurückgezogen lebt und hauptsächlich über das Internet Kontakte pflegt, namentlich über Virtual Reality Brillen, die dem realen, bald erscheinenden Virtual Reality System der Occulus Rift erstaunlich ähnlich sind.

Quellen zum Thema:
– eine gute Zusammenfassung von Hikikomori bietet die Studie:
Hikikomania: Existential Horror or National Malaise? (Pdf)

– ein sehr ausführlicher historischer Überblick und eine Analyse der verschiedenen Ursachen für Hikikomori finden sich in der Studie:
The Japanese hikikomori phenomenon

Der Unterschied zwischen Schüchterneheit und normaler Introversion

Introversion und Schüchternheit bedeuten nicht das Gleiche, auch wenn diese Begriffe oft zusammen genannt werden. Introversion ist ein ganz normaler Charakterzug. Introvertierte Menschen sind zurückhaltend, zeigen ihre Gefühle nicht so deutlich und verbringen gerne Zeit allein. Schüchternheit ist dagegen keine feste Charaktereigenschaft, sondern ein erlerntes Verhalten, das von Betroffenen als hinderlich und unangenehm empfunden wird. Schüchterne Menschen haben Probleme mit der Kontaktaufnahme zu (fremden) Menschen: Sie sind z. B. nervös, bekommen feuchte Hände, wissen nicht, was sie sagen sollen, oder haben Angst davor, etwas falsch zu machen. Ebenso haben sie Angst, zurückgewiesen zu werden, und sind dadurch gehemmt und unsicher in sozialen Situationen. Meist fällt es ihnen schwer, Kontakte und Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Diese Dinge treffen jedoch nicht zwangsläufig auf Introvertierte zu. Zwar sind Menschen mit starker Introversion häufig auch schüchtern und umgekehrt Schüchterne meist introvertiert. Allerdings gibt es auch schüchterne Extrovertierte, z. B. Menschen, die häufig Kontakt zu anderen haben und suchen, aber dabei unsicher, gehemmt oder nervös sind. Oder Menschen, die zwar sehr viel und ausdauernd reden, sich aber überhaupt nicht trauen, persönliche Themen anzusprechen und andere näher an sich heranzulassen.
Introvertiert bedeutet also, dass jemand einfach nur zurückhaltend ist. Schüchternheit, dass jemandem der Kontakt mit anderen Menschen schwerfällt. Beides trifft oft zusammen, ist aber bei Weitem nicht immer so. Ob es auch grundsätzlich extrovertierte Hikikomori gibt ist nicht bekannt, aber durchaus möglich.

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