Neurotische Musiker? Was die Nr.1 Hits der letzten 50 Jahre über unseren Musikgeschmack verraten

In einer aktuellen US-amerikanischen Studie wurden die Texte der Charthits der letzten 50 Jahre untersucht und darin 12 große, emotionale Themen gefunden.

Bild von doug88888/Flickr.com

Positive und negative Gefühle in der Musik

Jeder hört Musik, und jeder mag zumindest bestimmte Arten von Musik. In der vorliegenden Studie* wurden die Nr.1 Hits der amerikanischen Billboard-Charts (eine Kombination aus Verkäufen, Radio-Spielzeiten und neuerdings auch Online-Streaming) der Jahre 1960 – 2009 ausgewertet. Dabei wurden ausschließlich die Texte, nicht die Musik selbst, analysiert. Zweck des Ganzen war, herauszufinden, welche Themen uns in Liedern ansprechen, und damit besonders gut fürs Marketing geeignet sind.

12 Themen kristallisierten sich dabei heraus, über die am häufigsten gesungen wurde:

  • Verlust
  • Sexuelle Begierde
  • Hoffnung
  • Trennung
  • Schmerz
  • Optimismus/Inspiration
  • Nostalgie
  • Rebellion
  • Niedergeschlagenheit
  • Verzweiflung
  • Realitätsflucht
  • Verwirrung

Wie man sieht, ging es in den Hitsongs meist um große Emotionen: Freude und Trauer, Liebe und Herzschmerz, Momente der starken Motivation und Momente der starken Niedergeschlagenheit. Die Hauptthemen der Nummer 1 Hits könnte man daher auch simpel als „positive und negative Gefühle“ zusammenfassen, wobei die negativen Gefühle in der Liste deutlich überwiegen.

Mögen wir also ganz besonders Songs über negative Gefühle? Oder schreiben Musiker besonders häufig über negative Gefühle, bzw. lassen sich negative Gefühle besonders gut in starke Songs packen? Da die Studie nur die Nr. 1 Hits untersucht hat und nicht die Gesamtheit der Chartsongs oder gar der veröffentlichten Musik, bleiben diese Fragen ungeklärt. Vom subjektiven Eindruck her würde ich aber klar sagen, dass sich eine sehr große Zahl an Songs mit negativen Gefühlen befasst. Das mag unter anderem daran liegen, dass Musik für viele Songschreiber ein Weg ist, negative Gedanken und Erlebnisse, wie z.B. das Ende einer Beziehung oder die unsichere Zukunft, zu kanalisieren und zu verarbeiten: in Songs.

Neurotische Musiker?

In der Persönlichkeit zeigt sich dieser Hang zu negativen Gefühlen vor allem in der Big Five Eigenschaft des Neurotizismus, der Empfindlichkeit gegenüber negativen Einflüssen und Emotionen. Menschen mit hohem Neurotizismus verspüren negative Gefühle und auch Schmerzen stärker und öfter, sind schneller ängstlich, niedergeschlagen oder verzweifelt, neigen zum Grübeln und zu Depressionen. Erstaunlicherweise finden sich bis auf die Angst alle diese Gefühlslagen in den Top-Themen der Nr. 1 Hits wieder. Sind Musiker also allgemein neurotischer als andere Menschen? Eher nicht, denn darauf gab es in Studien bisher keine Hinweise. Eine deutsche Studie von 2012 kam im Gegenteil sogar zu dem Schluss, das Künstler – und dazu gehören natürlich auch Musiker – glücklicher sind als der Durchschnittsdeutsche. Vermutlich liegt die Überpräsenz des Themas negativer Emotionen nicht an einer depressiven Grundeinstellung der Musiker, sondern daran, dass sich durch die Musik negative Gefühle, die schließlich jeder Mensch hat, besser verarbeiten lassen. Das gilt offenbar nicht nur für die Musikschaffenden selbst, sondern auch für das Publikum, und ist eine mögliche Erklärung dafür, warum sich entsprechende Lieder so oft an der Spitze der Charts befinden.

Neben den negativen Gefühlen lässt sich noch eine weitere, vergleichsweise kleine Themengruppen mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften verbinden: Rebellion, Optimismus/Inspiration und vor allem die Realitätsflucht mit hoher Offenheit für neue Erfahrungen (theoretisches Denken im Typentest Persönlichkeitstest) – wobei die Realitätsflucht auch wieder mit Neurotizismus zusammenhängt. Entgegen meiner Erwartungen gibt es keine Themen mit klarer Zuordnung zu den Eigenschaften introvertiert und extrovertiert, obwohl es in verschiedenen Musikstilen deutliche Tendenzen zu energetischer, fröhlicher, eher extrovertierter, so wie eher ruhiger, nachdenklicher und introvertierter Musik gibt.

Zum Schluss noch der Hinweis, dass es sich um eine rein USA-zentrische Studie handelt. Die einzigen deutschen Lieder, die jemals an der Spitze der Billboard-Charts gelandet sind, dürften Nenas 99 Luftballons und Falcos Rock me Amadeus gewesen sein. Eine entsprechende Analyse deutscher Hitsongs würde vermutlich etwas veränderte Ergebnisse bringen, obwohl gerade die letzten Jahrzehnte deutlich durch englischsprachige Musik dominiert wurden. Dennoch dürfte sicherlich auch hierzulande das Thema der Verarbeitung negativer Emotionen eine ähnliche große Dominanz haben. Beim nächsten Song im Radio also einmal kurz inne halten und überlegen: worum geht es darin eigentlich?

Weitere Artikel zum Thema Musik:

*Studie:
David H. Henard and Christian L. Rossetti. All You Need is Love? Communication Insights from Pop Music’s Number-One Hits. Journal of Advertising Research, 2014,  PDF

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