Ein Schachspiel erklärt die Tücken von Kommunikation und Krieg

Eine Geschichte nicht nur für Schach-Nerds. Jeder hat als Kind Flüsterpost gespielt: aus dem ursprünglichen Wort wird am Ende der Runde etwas ganz anderes, nachdem es über zig Ohren und Münder gewandert ist. Es ist ein simples Beispiele für die Tücken und Missverständnisse in unserer Kommunikation.
Was passiert nun, wenn ein ähnliches Experiment in größerem Rahmen durchgeführt wird, mit Erwachsenen bzw. Jugendlichen statt Kindern und komplexen Regeln? Ein Geschichtslehrer in den USA macht genau das jedes Jahr, und zwar mit seinen Schülern und einem Schachspiel.

Von Krieg und Frieden

Mr. Herzig ist Geschichtslehrer an einer amerikanischen Schule. Er bedient sich gerne ungewöhnlicher Lernmethoden und eine seiner Lieblingsbeschäftigungen ist das Schach spielen. So verwundert es nicht, das auch sein Aufsehen erregendes Klassenprojekt mit Schach zu tun hat:
Über Wochen hinweg bringt Herzig seinen Schülern im Unterricht nebenbei Schachregeln bei und bereitet sie auf eine Schachprüfung vor, bei der diese Regeln abgefragt werden – und die jeder bestehen soll. Doch am Tag des Tests offenbart sich dann seine wahre Intention: es geht in Wirklichkeit um eine Schachsimulation, von der die Schüler erst an diesem Tag erfahren. Diese Simulation soll den Schülern zeigen, wie schwer es ist, die Wirren eines Krieges zu durchblicken und korrekte Befehle zu erteilen – was sich nebenbei auch auf unsere tägliche Kommunikation anwenden lässt, vor allem auf die zwischen Vorgesetzten und Untergebenen – also ganz normale Arbeits- oder Familiensituationen, wie sie jeder von uns kennt.

DAS EXPERIMENT

Mr. Herzig teilt die Schüler seiner Klasse in zwei Teams auf, die in einem sehr speziellen Schachspiel gegeneinander antreten sollen. Der Lehrer ist gleichzeitig Spielleiter und bestimmt nun in jedem Team einen Schüler, der für die Dauer des Experimentes die Figur und das Amt des Königs übernimmt. Alle anderen Teammitglieder erhalten ebenfalls eine wichtige Spielfigur zugeordnet (Königin, Turm, Springer, etc.), oder mehrere Bauern.
Die Notenvergebung (nach dem US-System) sieht vor: jeder, dessen Team gewinnt und seine Figur noch am Leben ist, bekommt die Bestnote A.  Wessen Team gewinnt, aber seine Figur geschlagen wurde, der bekommt immerhin noch ein B. Wer im Verliererteam ist, aber mit seiner Figur noch im Spiel, bekommt ein C, und wessen Team verliert und seine Figur geschlagen wurde, bekommt ein D. Ein F – die schlechteste Note – gibt es nur, wenn jemand das Schachset des Spielleiters berührt oder das Spiel sabotiert.
Die Motivation für die Schüler ist also hoch, nicht nur ihr Team zum Sieg zu führen, sondern auch die eigene Figur am Leben zu erhalten. Beziehungsweise wenn man im Verliererteam ist, zumindest dafür zu sorgen, dass die eigene Figur überlebt.
Die Schülerteams werden auf zwei Raumhälften aufgeteilt und jedes Team erhält ein komplettes eigenes Schachset mit Brett und Figuren. Mr. Herzig befindet sich als Spielleiter vorne im Raum, ebenfalls mit einem kompletten Schachset ausgerüstet.

Die ungewöhnlichen Regeln

Jedes Team hat zwar ein eigenes Schachset, aber gültig ist allein die Aufstellung auf dem Set vom Spielleiter. Die jeweiligen Schachsets der Teams dienen ihnen dazu, zu wissen, wie die aktuelle Spielaufstellung aussieht. Die Teams sind selbst dafür verantwortlich, sie auf dem aktuellen Stand (=dem des Spielleiters) zu halten. Niemand darf das Schachset des Spielleiters berühren oder gar Figuren darauf bewegen – dies führt zur Disqualifikation. Züge eines Teams müssen in gültiger Schachnotation – z.B. weißer Springer auf E5 – aufgeschrieben und von demjenigen Spieler an den Spielleiter übermittelt werden, der die zu bewegende Figur spielt(!), also in diesem Fall vom Spieler des weißen Springers. Diese Zettel mit den Zügen müssen zudem zuvor vom König signiert werden, z.B. mit einer zuvor festgelegten Unterschrift oder einem Stempel. Das Zeitlimit für jeden Zug ist fünf Minuten. Später eingereichte Züge werden nicht berücksichtigt. Ein Zug ist erst gültig, wenn der Spielleiter in vorliest und bestätigt.
Fehlt die Signatur des Königs, ist die Signatur falsch oder undeutlich, übermittelt der falsche Spieler den Zug, oder ist die Bewegung gar nicht möglich, so wird der Zug für ungültig erklärt, verfällt und kann nicht wiederholt werden. Beide Teams sind stets GLEICHZEITIG an der Reihe, es gibt keine feste Reihenfolge. Wer seinen Zug zuerst und in korrekter Form abgibt, bewegt sich als Erster. Die Runde endet, wenn beide Züge ausgeführt, ungültig oder die fünf Minuten abgelaufen sind.

Chaos Kommunikation

Diese ungewöhnlichen Regeln bewirken vor allem Eines: blankes Chaos. Es entsteht ein enormer Zeitdruck, denn jedes Team möchte seinen Zug zuerst abgeben, um dem gegnerischen Team zuvorkommen zu können und dadurch Figuren zu Schlagen oder das Schlagen von Figuren zu verhindern. Schnell zu agieren ist daher sehr verlockend, geht aber auf Kosten von Taktik und Überlegung und kann so zu fatalen Fehlern führen. Gleichzeitig will jeder Spieler seine Interessen durchsetzen: die Einen möchten mit ihrer Figur vorstürmen, die Anderen möchten ihre Figur schützen. Doch egal was die Spieler im Team entscheiden: das letzte  Wort hat immer der König – denn ohne seine Signatur ist kein Zug möglich. Will der König eigenmächtig bestimmen, ist er jedoch auch darauf angewiesen, dass die jeweilige Figur/der Spieler den Befehl ausführt und an den Spielleiter übergibt. Verweigert jemand den Befehl, kann der König nichts dagegen machen.
Das Ganze passiert in einem Klassenzimmer, in dem die viele Schüler gegen Freunde im Gegnerischen und gegen Feinde im eigenen Team antreten müssen und jeder eine möglichst gute Note ergattern möchte. So Manchen mag das an das ganz normale Chaos der Entscheidungsfindung auf der Arbeit oder in der Familie erinnern.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es bei all dem Chaos, strengen Regeln und Zeitdruck zu Fehlern kommt. Früher oder später wird es ungültige Züge geben: eine Mannschaft ist nur noch einen Zug vom Sieg entfernt, doch der König hat seine Signatur auf dem Zugbefehl vergessen. Ungültig! Oder: der Zug ist falsch beschrieben, wurde zu spät eingereicht, die Figur ist in Wirklichkeit gar nicht mehr im Spiel. Solche Züge werden für ungültig erklärt und der Druck aufs Team wird größer. Durch dieses Durcheinander entsprechen die Schachbretter der Teams recht bald nicht mehr der tatsächlichen Aufstellung des Spiels beim Spielleiter. Zur Erinnerung: die Teams sind selbst dafür verantwortlich, dass ihre Schachbretter den tatsächlichen Stand des Spiels wiederspiegeln. Stimmt die Aufstellung nicht mehr mit der Wirklichkeit überein, so entstehen immer mehr Fehler. Irgendwann, wenn nur noch Chaos herrscht, bricht Mr. Herzig schließlich das Spiel ab, ohne dass es einen Sieger gibt. Er entschuldigt sich bei den Schülern. Er gesteht, dass er sie hereingelegt hat. Es gibt in Wirklichkeit keine Benotung für das Experiment. Die Erklärung folgt am nächsten Tag.

Die Aufklärung und der Twist

Mr. Herzig erklärt den Schülern, dass er absichtlich eine Situation geschaffen hat, die im Chaos münden wird.  Er hat auch absichtlich die Klasse gespalten: zwei Freunde zu gegnerischen Königen ernannt, befreundete Schüler jeweils in gegnerische Teams gesteckt. Wer durch den Sieg eine gute Note bekommen will, sorgt so automatisch für schlechte Noten bei seinen Freunden. Da der König für alle Züge verantwortlich ist, gibt es entsprechend Ärger auf ihn, falls ein Befehl für ungültig erklärt wird. Durch die drei verschiedenen Schachbretter wird die Fehlerwahrscheinlichkeit zusätzlich erhöht.
Und zu guter Letzt: das Schicksal, die Unwägbarkeit in Form des Spielleiters. Mr. Herzig gibt offen zu, absichtlich Fehler ins Spiel eingebaut zu haben: falls eine Mannschaft kurz vorm Sieg steht, sorgt er durch falsche oder zu Unrecht für ungültig erklärte Züge dafür, dass es nicht zum Sieg kommt. Doch manchmal ist dies gar nicht nötig. Denn die Spieler produzieren oft selbst Fehler, erzeugen den größten Teil des Chaos ganz alleine.
Nach dem Experiment bittet Mr. Herzig die Schüler, über die Geheimnisse und Regeln dieses Spiels stillschweigen zu bewahren. Ihren Mitschülern nicht zu verraten, dass dieses besondere Schachspiel nicht gewonnen werden kann. Damit die folgenden Jahrgänge auch in den Genuss der Erfahrung und der Überraschung kommen, ohne vorher zu wissen, was auf sie zukommt und was der Clou daran ist.

Die Lektion für die Schüler

Es ging bei diesem Schachspiel nie um die Noten oder darum, Schach zu lernen. Es ist eine Lektion über das Leben. Über die Wirren des Krieges und der Kommunikation.

Darüber, dass wir für das eigene Wohl und die Versprechung eines Gewinnes (gute Noten) bereit sind, das Wohl anderer zu gefährden (schlechte Noten). Darüber, dass es nicht einfach ist, die Wünsche und Ideen von Vorgesetzten (König) und Mitarbeitern (alle anderen) zu einer schnell und effektiv funktionierenden Einheit zu bringen. Darüber, dass Dinge nicht immer so funktionieren, wie man sie geplant hat, da andere Menschen und unvorhergesehene Ereignisse auch ihren Teil dazu beitragen und nicht jeder nach den Regeln spielt. Die drei Schachbretter, von denen nur eines den realen Stand des Spiels repräsentiert, symbolisieren den Kriegsnebel, die Ungewissheit, ob die Realität überhaupt mit den eigenen Plänen übereinstimmt.

Lösung durch Teamplay

Das Spiel zeigt uns, wie schnell wir bereit sind, eigenen Gewinn auf Kosten anderer zu erreichen – was uns in dem Moment oft gar nicht bewusst ist. Autofahren, wie im Artikel über Intuition, ist da ein schönes Beispiel: jeder will möglichst schnell am Ziel sein. Auch in der Karriere (genau das ist Schule ja) sind wir oft selbstsüchtig, statt Teamplayer.
Es gibt aber die Möglichkeit, Verluste in diesem Spiel komplett zu vermeiden: indem alle zusammenarbeiten. Das beide Könige sich komplett weigern, Befehle zu unterzeichnen, ist unwahrscheinlich, aber möglich. Wenn sich allerdings alle Bauern weigern, Befehle auszuführen, kann der König nichts dagegen machen. Wenn die erste Reihe der Bauern und die beiden Springer „streiken“, bedeutet dass, alle anderen Figuren dahinter sind auch blockiert, inklusive dem König selbst. Passiert dies in beiden Teams, kommt es zum kompletten Stillstand. Der „Krieg“ wurde verhindert. Ob einmal eine Klasse selbstständig auf diese Lösung gekommen ist, ist leider nur gerüchteweise bekannt.

Der zweite Punkt ist die Kommunikation: manchmal kommt das, was wir sagen, anders an, als wir es meinen. Wie bei der Flüsterpost. Ziehen Mitarbeiter und Chef/König nicht an einem Strang oder sind einer Seite die Regeln nicht klar, kommt es zu Chaos oder Stillstand. Ist der Chef unmotiviert, macht Fehler, oder verweigert sich ganz, können auch die Mitarbeiter nur wenig erreichen. Respektieren die Mitarbeiter den Chef nicht und nehmen ihn nicht ernst, ist er nur König des Titels wegen, aber kann real nichts ausrichten. Beide Seiten brauchen einander, sind aufeinander angewiesen. Gute Kommunikation entsteht nicht von selbst, sondern muss erarbeitet werden.

Schließlich der dritte Punkt, der Abgleich von Vorstellung und Realität. Oft klafft zwischen dem was wir erwarten, und dem, wie es wirklich ist, ein großes Loch. Das kann an Missinformation liegen, oder einfach daran, dass wir uns nicht ausreichend mit etwas auseinandersetzen oder unsere eigene Realität schaffen wollen. Gerade dieser Punkt wird gerne Behörden und der Politik vorgeworfen: sie leben in ihrer eigenen Welt, spielen ihr eigenes Schachspiel, das fernab von den Anforderungen der Realität ist. Wenn sie sich dann doch einmal den realen Anforderungen angleichen, ist der Zug schon lange vorbei. Auch Firmen laufen oft der Innovation und der Realität hinterher, statt mit einem eigenen Zug etwas Neues vorzulegen. Ein Beispiel dafür ist die Unterhaltungsindustrie und die aktuelle Debatte ums Urheberrecht: alle wissen, dass sich die Nutzung von Inhalten durch das Internet radikal verändert hat, aber nur wenige machen den entscheidenden Zug, um sich der Realität anzupassen. Doch das Spiel geht weiter, so oder so.

Die Auswirkungen, die wir auf andere haben und andere auf uns, sind im echten Leben natürlich wesentlich komplizierter als in einem Schachspiel, die Regeln oft viel unklarer. Dennoch hilft es, von Zeit zu Zeit einen Realitätscheck zu machen, an guter Kommunikation zu arbeiten und auf die Position anderer Rücksicht zu nehmen. Nur so können beide Seiten gewinnen.

Eine reale Geschichte

Auch wenn sich diese Geschichte wie eine Hollywood-Story übertrieben oder romantisiert anhören mag: sie ist echt. Mr. Herzig spielt dieses Schachspiel jedes Jahr mit seinen Schülern, damit sie eine eindrucksvolle, realitätsnahe Lektion über die Wirren des Krieges, der Kommunikation und des Lebens lernen.

 

Die Geschichte über Mr. Herzig und sein Schachexperiment stammt aus einem englischen Forenbeitrag auf reddit, geschrieben von einem ehemaligen Schüler Mr. Herzigs.  Ich habe dieses Experiment ins Deutsche übertragen und mich bemüht, es möglichst originalgetreu wiederzugeben. Wer des englischen mächtig ist und sich näher dafür interessiert, dem empfehle ich die Lektüre des Originalbeitrages.

Bild: Flickr-User Mukumbura

 

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One Response to Ein Schachspiel erklärt die Tücken von Kommunikation und Krieg

  1. Lars Lars sagt:

    Schwarz und Weiß sind jeweils einer Gruppe zugeteilt. Beide sind gleichzeitig dran. Zuerst ziehen darf die Gruppe, die ihren Zug zuerst und korrekt(!) einreicht. Dadurch entsteht ein konstanter Zeitdruck, der wiederum zu Fehlern führt…

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